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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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nen Willen dem gesammten Europa als Gesetz vorschreiben dürfe, oder ob vier
Mächte stark genug seien, ihre Auffassung einer widerstrebenden Macht gegen¬
über zur Geltung zu bringen.

Im ersten Augenblick mochte man sich in Frankreich damit trösten, daß der
Tractat vom 15. Juli wirkungslos bleiben würde, daß die Verbündeten selbst
nicht die Absicht hätten, ihm thatsächlichen Nachdruck zu geben, daß die frucht¬
losen Bestrebungen des verbündeten Europa Frankreich binnen Kurzem einen
um so glänzenderen Triumph bereiten würden. Bald mußte man sich über¬
zeugen, daß Palmerston entschlossen war, den Tractat mit dem äußersten Nach¬
druck auszuführen. Um rasch zum Ziel zu kommen und jede Verzögerung zu
verhüten, war stipulirt worden, daß die im Vertrage verabredeten Executions-
maßregein sofort, noch vor Auswechselung der Ratificationen, eintreten sollten.
Dies steigerte natürlich die Erbitterung in Frankreich. Schon am 11. Septem¬
ber begannen die Operationen der Verbündeten gegen Beyrut, das sich nach
einem kurzen Bombardement ergab. Am 14. September wurde Mehemed Ali,
nachdem die ihm gestellte Frist abgelaufen war, vom Sultan für abgesetzt er¬
klärt und Jzzet Mehemed zu seinem Nachfolger als Pascha von Aegypten ernannt.

Noch ehe diese Wendung eingetreien war, hatte die von der öffentlichen
Meinung scharf gedrängte französische Regierung sich veranlaßt gesehen, eine
militärisch drohende Haltung anzunehmen und mit dem Lärm kriegerischer
Rüstungen Europa in einige Aufregung zu versetzen. Die Befestigungen von
Paris wurden decretirt, Truppen ausgehoben, das französische Geschwader an
der syrischen Küste wurde verstärkt; zugleich aber war einem zufälligen Con¬
flicte vorgebeugt worden durch die Jnstructionen, die der Befehlshaber erhalten
hatte; das Ganze bezweckte eben nur eine Demonstration, die wohl weniger
darauf berechnet war, die Verbündeten einzuschüchtern, als vielmehr darauf,
dem Pascha für den Fall entschlossenen Ausharrens von fern den Beistand
Frankreichs zu zeigen, und vor Allem darauf, der Aufregung der Nation einige
Genugthuung zu geben; daß man ihr damit zugleich Nahrung gab, bedachte
man nicht, oder mußte es vielmehr als ein unvermeidliches Uebel mithiimehmen.
Einen ernsteren Charakter drohte die Verwickelung erst anzunehmen, als die
Nachricht von der Absetzung Mehemed Alis in Frankreich bekannt wurde. Es
konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Frankreich der gewaltsamen Durch¬
führung dieser Maßregel Gewalt entgegensetzen würde, auf die Gefahr hin,
u einen Krieg gegen das verbündete Europa verwickelt zu werden. Ein Zurück-
w leben von den äußersten Schritten würde in diesem Falle dem König Lud¬
wig Philipp auch die conservativsten Elemente des Landes abgewendet und
ihn schußlos den Leidenschaften der extremsten Parteien, die längst nach einer
Umwälzung sich sehnten, Preis gegeben haben. Es schien einen Augenblick,
als sollte die orientalische Frage am Rhein ihre Lösung finden.


nen Willen dem gesammten Europa als Gesetz vorschreiben dürfe, oder ob vier
Mächte stark genug seien, ihre Auffassung einer widerstrebenden Macht gegen¬
über zur Geltung zu bringen.

Im ersten Augenblick mochte man sich in Frankreich damit trösten, daß der
Tractat vom 15. Juli wirkungslos bleiben würde, daß die Verbündeten selbst
nicht die Absicht hätten, ihm thatsächlichen Nachdruck zu geben, daß die frucht¬
losen Bestrebungen des verbündeten Europa Frankreich binnen Kurzem einen
um so glänzenderen Triumph bereiten würden. Bald mußte man sich über¬
zeugen, daß Palmerston entschlossen war, den Tractat mit dem äußersten Nach¬
druck auszuführen. Um rasch zum Ziel zu kommen und jede Verzögerung zu
verhüten, war stipulirt worden, daß die im Vertrage verabredeten Executions-
maßregein sofort, noch vor Auswechselung der Ratificationen, eintreten sollten.
Dies steigerte natürlich die Erbitterung in Frankreich. Schon am 11. Septem¬
ber begannen die Operationen der Verbündeten gegen Beyrut, das sich nach
einem kurzen Bombardement ergab. Am 14. September wurde Mehemed Ali,
nachdem die ihm gestellte Frist abgelaufen war, vom Sultan für abgesetzt er¬
klärt und Jzzet Mehemed zu seinem Nachfolger als Pascha von Aegypten ernannt.

Noch ehe diese Wendung eingetreien war, hatte die von der öffentlichen
Meinung scharf gedrängte französische Regierung sich veranlaßt gesehen, eine
militärisch drohende Haltung anzunehmen und mit dem Lärm kriegerischer
Rüstungen Europa in einige Aufregung zu versetzen. Die Befestigungen von
Paris wurden decretirt, Truppen ausgehoben, das französische Geschwader an
der syrischen Küste wurde verstärkt; zugleich aber war einem zufälligen Con¬
flicte vorgebeugt worden durch die Jnstructionen, die der Befehlshaber erhalten
hatte; das Ganze bezweckte eben nur eine Demonstration, die wohl weniger
darauf berechnet war, die Verbündeten einzuschüchtern, als vielmehr darauf,
dem Pascha für den Fall entschlossenen Ausharrens von fern den Beistand
Frankreichs zu zeigen, und vor Allem darauf, der Aufregung der Nation einige
Genugthuung zu geben; daß man ihr damit zugleich Nahrung gab, bedachte
man nicht, oder mußte es vielmehr als ein unvermeidliches Uebel mithiimehmen.
Einen ernsteren Charakter drohte die Verwickelung erst anzunehmen, als die
Nachricht von der Absetzung Mehemed Alis in Frankreich bekannt wurde. Es
konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Frankreich der gewaltsamen Durch¬
führung dieser Maßregel Gewalt entgegensetzen würde, auf die Gefahr hin,
u einen Krieg gegen das verbündete Europa verwickelt zu werden. Ein Zurück-
w leben von den äußersten Schritten würde in diesem Falle dem König Lud¬
wig Philipp auch die conservativsten Elemente des Landes abgewendet und
ihn schußlos den Leidenschaften der extremsten Parteien, die längst nach einer
Umwälzung sich sehnten, Preis gegeben haben. Es schien einen Augenblick,
als sollte die orientalische Frage am Rhein ihre Lösung finden.


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[0344] nen Willen dem gesammten Europa als Gesetz vorschreiben dürfe, oder ob vier Mächte stark genug seien, ihre Auffassung einer widerstrebenden Macht gegen¬ über zur Geltung zu bringen. Im ersten Augenblick mochte man sich in Frankreich damit trösten, daß der Tractat vom 15. Juli wirkungslos bleiben würde, daß die Verbündeten selbst nicht die Absicht hätten, ihm thatsächlichen Nachdruck zu geben, daß die frucht¬ losen Bestrebungen des verbündeten Europa Frankreich binnen Kurzem einen um so glänzenderen Triumph bereiten würden. Bald mußte man sich über¬ zeugen, daß Palmerston entschlossen war, den Tractat mit dem äußersten Nach¬ druck auszuführen. Um rasch zum Ziel zu kommen und jede Verzögerung zu verhüten, war stipulirt worden, daß die im Vertrage verabredeten Executions- maßregein sofort, noch vor Auswechselung der Ratificationen, eintreten sollten. Dies steigerte natürlich die Erbitterung in Frankreich. Schon am 11. Septem¬ ber begannen die Operationen der Verbündeten gegen Beyrut, das sich nach einem kurzen Bombardement ergab. Am 14. September wurde Mehemed Ali, nachdem die ihm gestellte Frist abgelaufen war, vom Sultan für abgesetzt er¬ klärt und Jzzet Mehemed zu seinem Nachfolger als Pascha von Aegypten ernannt. Noch ehe diese Wendung eingetreien war, hatte die von der öffentlichen Meinung scharf gedrängte französische Regierung sich veranlaßt gesehen, eine militärisch drohende Haltung anzunehmen und mit dem Lärm kriegerischer Rüstungen Europa in einige Aufregung zu versetzen. Die Befestigungen von Paris wurden decretirt, Truppen ausgehoben, das französische Geschwader an der syrischen Küste wurde verstärkt; zugleich aber war einem zufälligen Con¬ flicte vorgebeugt worden durch die Jnstructionen, die der Befehlshaber erhalten hatte; das Ganze bezweckte eben nur eine Demonstration, die wohl weniger darauf berechnet war, die Verbündeten einzuschüchtern, als vielmehr darauf, dem Pascha für den Fall entschlossenen Ausharrens von fern den Beistand Frankreichs zu zeigen, und vor Allem darauf, der Aufregung der Nation einige Genugthuung zu geben; daß man ihr damit zugleich Nahrung gab, bedachte man nicht, oder mußte es vielmehr als ein unvermeidliches Uebel mithiimehmen. Einen ernsteren Charakter drohte die Verwickelung erst anzunehmen, als die Nachricht von der Absetzung Mehemed Alis in Frankreich bekannt wurde. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Frankreich der gewaltsamen Durch¬ führung dieser Maßregel Gewalt entgegensetzen würde, auf die Gefahr hin, u einen Krieg gegen das verbündete Europa verwickelt zu werden. Ein Zurück- w leben von den äußersten Schritten würde in diesem Falle dem König Lud¬ wig Philipp auch die conservativsten Elemente des Landes abgewendet und ihn schußlos den Leidenschaften der extremsten Parteien, die längst nach einer Umwälzung sich sehnten, Preis gegeben haben. Es schien einen Augenblick, als sollte die orientalische Frage am Rhein ihre Lösung finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/344>, abgerufen am 20.10.2024.