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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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und indem Gagern sich den Großdeutschen anschließt, muß und will er doch
auch mit Demokraten zusammengehen -- ganz abgesehen davon, daß die De¬
mokraten seit 18,49 so gut gelernt und vergessen haben wie die Constitutionellen.

Oestreich, sagt Gagern, hat sich im Gegensah zu früher jetzt in eine Lage
versetzt, die seine Aufnahme in den engsten Bund mit dem neugestalteten Deutsch¬
land ermöglicht; es ist ein Verfassungsstaat geworden, es gibt jetzt wenigstens
eine ideale Grenzlinie zwischen seinen deutschen und nichtdeutschen Landestheilen
zu, die deutsche Gesinnung ist ihm ungleich lebendiger als vor dreizehn Jahren,
Aber das Letztere ist eine allgemeine Erscheinung, die'von Preußen in bei Weitem
höherem Maße gilt; die "ideale Grenzlinie" hat bis jetzt kein Leben außer als
Versprechen in einer einzigen diplomatischen Note, und stößt sich an der
noch neulich wieder für unantastbar erklärten Februarverfassung; die Form end¬
lich., in der Oestreich zum Verfassungsstaat geworden ist, ist diejenige des mit
einem deutschen Bundesstaat unvereinbarer Gesammtstaats. Alle alten und
neuen Gothaer bis auf Herrn v. Gagern folgern daher, daß wir in allem Wesent.
liehen noch durchaus auf demselben Flecke stehen wie t849. Das Gagernsche
Programm hat seine Beweiskraft für Niemanden verloren außer für das Brüder¬
paar, dessen Namen es trägt.

Die Bewegung von 1848 und 49 hat allerdings wenigen Familien so
übel mitgespielt wie der Gagernschen, Den charaktervollsten und politisch be¬
deutendsten der Brüder raffte schon ihr erster Ausbruch hinweg; die anderen
beiden haben innerhalb ihrer Partei wohl am schwersten daran getragen, daß
Preußen sich damals seiner historischen Mission so kläglich versagte. Obwohl
über die Vereitelung ihres praktischen Ideals durch nichts als die Schwäche
der regierenden Berliner Kreise tief empört, waren sie doch nicht sofort auch
entschlossen, ihren Glauben an Preußens Zukunft aufzugeben. Aber was
der Schmerz des Augenblicks nicht erzwang, das erheblich sich die langsame Reife
bisher zurückgedrängter entgegengesetzter Sympathien. In den Gagerns war
von jeher ein doppelter Zug; es muß als ein Sieg des politischen Verstandes
über das Gemüth gelten, wenn sie sich 1848 fast von Anbeginn an für Preußen
entschieden. Als dann die Rechnung des Verstandes doch getrogen hatte, schlug
die Neigung deo Herzens natürlich um so gewaltsamer und unwiderstehlicher,
wenn auch allmälig vor, Max, der jüngere Bruder, war schon vor 1848 zur
katholischen Kirche übergetreten*). Noch nach der Katastrophe von 1849-,aber
war er bereit, seinen Platz in Wiesbaden mit einem ebenso bescheidenen Posten
in preußischen Diensten zu vertauschen. Preußen aber verschmähte ihn, und
Oestreich zog ihn in seine deutsche Kanzlei. Die Folge war, daß Heinrich
von Gagern seine Söhne ins östreichische, nicht ins preußische Heer stellte.



") H D. Red. einrich, der ältere, läßt wenigstens seine Kinder katholisch erziehen,

und indem Gagern sich den Großdeutschen anschließt, muß und will er doch
auch mit Demokraten zusammengehen — ganz abgesehen davon, daß die De¬
mokraten seit 18,49 so gut gelernt und vergessen haben wie die Constitutionellen.

Oestreich, sagt Gagern, hat sich im Gegensah zu früher jetzt in eine Lage
versetzt, die seine Aufnahme in den engsten Bund mit dem neugestalteten Deutsch¬
land ermöglicht; es ist ein Verfassungsstaat geworden, es gibt jetzt wenigstens
eine ideale Grenzlinie zwischen seinen deutschen und nichtdeutschen Landestheilen
zu, die deutsche Gesinnung ist ihm ungleich lebendiger als vor dreizehn Jahren,
Aber das Letztere ist eine allgemeine Erscheinung, die'von Preußen in bei Weitem
höherem Maße gilt; die „ideale Grenzlinie" hat bis jetzt kein Leben außer als
Versprechen in einer einzigen diplomatischen Note, und stößt sich an der
noch neulich wieder für unantastbar erklärten Februarverfassung; die Form end¬
lich., in der Oestreich zum Verfassungsstaat geworden ist, ist diejenige des mit
einem deutschen Bundesstaat unvereinbarer Gesammtstaats. Alle alten und
neuen Gothaer bis auf Herrn v. Gagern folgern daher, daß wir in allem Wesent.
liehen noch durchaus auf demselben Flecke stehen wie t849. Das Gagernsche
Programm hat seine Beweiskraft für Niemanden verloren außer für das Brüder¬
paar, dessen Namen es trägt.

Die Bewegung von 1848 und 49 hat allerdings wenigen Familien so
übel mitgespielt wie der Gagernschen, Den charaktervollsten und politisch be¬
deutendsten der Brüder raffte schon ihr erster Ausbruch hinweg; die anderen
beiden haben innerhalb ihrer Partei wohl am schwersten daran getragen, daß
Preußen sich damals seiner historischen Mission so kläglich versagte. Obwohl
über die Vereitelung ihres praktischen Ideals durch nichts als die Schwäche
der regierenden Berliner Kreise tief empört, waren sie doch nicht sofort auch
entschlossen, ihren Glauben an Preußens Zukunft aufzugeben. Aber was
der Schmerz des Augenblicks nicht erzwang, das erheblich sich die langsame Reife
bisher zurückgedrängter entgegengesetzter Sympathien. In den Gagerns war
von jeher ein doppelter Zug; es muß als ein Sieg des politischen Verstandes
über das Gemüth gelten, wenn sie sich 1848 fast von Anbeginn an für Preußen
entschieden. Als dann die Rechnung des Verstandes doch getrogen hatte, schlug
die Neigung deo Herzens natürlich um so gewaltsamer und unwiderstehlicher,
wenn auch allmälig vor, Max, der jüngere Bruder, war schon vor 1848 zur
katholischen Kirche übergetreten*). Noch nach der Katastrophe von 1849-,aber
war er bereit, seinen Platz in Wiesbaden mit einem ebenso bescheidenen Posten
in preußischen Diensten zu vertauschen. Preußen aber verschmähte ihn, und
Oestreich zog ihn in seine deutsche Kanzlei. Die Folge war, daß Heinrich
von Gagern seine Söhne ins östreichische, nicht ins preußische Heer stellte.



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/253>, abgerufen am 20.10.2024.