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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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gleichsam "wiedergeboren" und dadurch neugekräftigt vorfanden, da wurde auch
ihre mythische Anschauung von der gothischen angezogen, und verlegten sie die
Heimath ihres Dietrich von Bonn nach Verona. In derselben Weise denken
wir uns Attus Auswanderung von Soest nach dem Ungarlande und seine
Wiedergeburt in dem historischen Attila.

Anfangs mag der erste Auszug des sächsischen Wittich, um Dietrich zu bestehn,
vielleicht nur von Münster (Mimigardisord) nach Bonn gegangen sein, später
muß er über die Alpen nach Verona wandern. Möglich wäre es auch, daß
ihm bereits die sächsische Sage durch einen ähnlichen Vorgang das dänische
Seeland zur Heimath angewiesen habe, weil die nach sächsischen Sagen verfaßte
Tbidreksage erzählt, daß sowohl sein Großvater Wate, als sein Vater Wieland
dort ihr Anwesen gehabt und Wittich von dort nach Italien gezogen sei.

Daß uns in dieser in Norwegen verfaßten Thidreksage die echte sächsische
Sage enthalten sei, kann nicht bezweifelt werden, weil sie es selbst ausdrücklich
versichert. Daß aber auch das Wölundslied der Edda aus gleicher Quelle
stamme, mochten wir keineswegs behaupten; denn wenn darin des Rheines
gedacht wird, so wäre wohl erst zu beweisen, daß dieser Name gerade den deut¬
schen Strom und nicht etwa im Anfang die himmlische Milchstraße bedeutet
habe und später auf die Wolga oder den Don übertragen worden sei. Dagegen
finden wir es sehr glaublich, daß die alten Gothen in Schweden, sobald sie
durch nachdringende Sueven oder aus andere Weise erfuhren, daß der ihnen
aus ihrer Sage bekannte flußversenkte Hort in den großen deutschen Rhein
versenkt worden sei, den Sitz ihrer Sage an diesen Strom verlegt haben, und
dies um so mehr, als schon die Edda selbst auf näheren Verkehr mit deutschen
Sagensängern hinweist, indem sie Abweichungen von ihren einheimischen Sagen
verzeichnet, welche in deutschen Liedern vorkommen.

Von diesem Standpunkte erscheint uns daher der Streit zwischen Deutschen
und Skandinaven über Sagentlehnung ebenso vergeblich, als es der Streit
zwischen Germanen und Hellenen über die Frage fein würde, ob die Ersteren
ihren Dietrich aus Attika, oder die Letzteren ihren Theseus vom Rheine geholt
haben, in welchen Hader dann auch die Römer zu Gunsten ihres Romulus,
die Perser für ihren Kyros und die Baktrer für ihren Kai Kosrew eintreten
müßten.

So wenig wir die verschiedenen Zweige unserer Sprache auf das Gothische
als deren gemeinsame Quelle zurückführen können, ebenso vergeblich erscheint
uns das Bestreben,'die Quelle unserer Sage bei irgend einem deutschen Volks-
stamme zu suchen, weil sie älter ist, als unser ganzes Volk.




gleichsam „wiedergeboren" und dadurch neugekräftigt vorfanden, da wurde auch
ihre mythische Anschauung von der gothischen angezogen, und verlegten sie die
Heimath ihres Dietrich von Bonn nach Verona. In derselben Weise denken
wir uns Attus Auswanderung von Soest nach dem Ungarlande und seine
Wiedergeburt in dem historischen Attila.

Anfangs mag der erste Auszug des sächsischen Wittich, um Dietrich zu bestehn,
vielleicht nur von Münster (Mimigardisord) nach Bonn gegangen sein, später
muß er über die Alpen nach Verona wandern. Möglich wäre es auch, daß
ihm bereits die sächsische Sage durch einen ähnlichen Vorgang das dänische
Seeland zur Heimath angewiesen habe, weil die nach sächsischen Sagen verfaßte
Tbidreksage erzählt, daß sowohl sein Großvater Wate, als sein Vater Wieland
dort ihr Anwesen gehabt und Wittich von dort nach Italien gezogen sei.

Daß uns in dieser in Norwegen verfaßten Thidreksage die echte sächsische
Sage enthalten sei, kann nicht bezweifelt werden, weil sie es selbst ausdrücklich
versichert. Daß aber auch das Wölundslied der Edda aus gleicher Quelle
stamme, mochten wir keineswegs behaupten; denn wenn darin des Rheines
gedacht wird, so wäre wohl erst zu beweisen, daß dieser Name gerade den deut¬
schen Strom und nicht etwa im Anfang die himmlische Milchstraße bedeutet
habe und später auf die Wolga oder den Don übertragen worden sei. Dagegen
finden wir es sehr glaublich, daß die alten Gothen in Schweden, sobald sie
durch nachdringende Sueven oder aus andere Weise erfuhren, daß der ihnen
aus ihrer Sage bekannte flußversenkte Hort in den großen deutschen Rhein
versenkt worden sei, den Sitz ihrer Sage an diesen Strom verlegt haben, und
dies um so mehr, als schon die Edda selbst auf näheren Verkehr mit deutschen
Sagensängern hinweist, indem sie Abweichungen von ihren einheimischen Sagen
verzeichnet, welche in deutschen Liedern vorkommen.

Von diesem Standpunkte erscheint uns daher der Streit zwischen Deutschen
und Skandinaven über Sagentlehnung ebenso vergeblich, als es der Streit
zwischen Germanen und Hellenen über die Frage fein würde, ob die Ersteren
ihren Dietrich aus Attika, oder die Letzteren ihren Theseus vom Rheine geholt
haben, in welchen Hader dann auch die Römer zu Gunsten ihres Romulus,
die Perser für ihren Kyros und die Baktrer für ihren Kai Kosrew eintreten
müßten.

So wenig wir die verschiedenen Zweige unserer Sprache auf das Gothische
als deren gemeinsame Quelle zurückführen können, ebenso vergeblich erscheint
uns das Bestreben,'die Quelle unserer Sage bei irgend einem deutschen Volks-
stamme zu suchen, weil sie älter ist, als unser ganzes Volk.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/112>, abgerufen am 27.09.2024.