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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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Sage ihre Naturanschauungen in die Form menschlicher Begebenheiten ein¬
kleidet.

Diese formale Uebereinstimmung ist die Ursache, daß zwei an sich grund¬
verschiedene Wissenschaften zu einem Ganzen verbunden wurden.

Die Sage enthält also nichts Geschehenes, sondern nur Erdachtes, welches
in die Formen des Geschehenen eingekleidet wurde und eingekleidet werden
mußte, weil keine andere Form dafür vorhanden war.

Die Sagbildung beginnt mit dem ersten Gedanken des ersten Menschen
und ist mit dem Ausbau der Sprache vollendet. Die Geschichte beginnt mit
der. ersten Aufzeichnung des Geschehenen.

Aus dem Entwickelungsgange der Sage, welcher die fortwährende Versinn-
lichung ihres Stoffes anstrebt, ergibt sich, daß sie auch im Lause der Zeit keine
geschichtlichen Stoffe in sich aufnehmen kann.
'




Aus unserer Ansicht von der Entstehung der Sage ergibt sich mit noth¬
wendiger Folge eine von der bisherigen abweichende Anschauung über das
Aller der hellenischen und germanischen Sage. Denn wenn die Sage eine
Zwillingsschwester der Sprache ist, wenn die Sagschvpfungst'rast und die Sprach-
schöpfungskraft in demselben Zeiträume absterben; wenn von da an die Fort-
entwickelung der Sprache und Sage auf Umbildung und Entlehnung beschränkt
bleibt, so müssen wir die deutsche und die griechische Sage für älter halten, als
das deutsche und griechische Volk. Lange bevor sich diese Vöikerzweige von
dem gemeinsamen Mutterstamme loslösten, bildete nämlich diejenige Sprache
und diejenige Sage den Geistesschatz dieses Mutterstammes^ welche jene Zweige
im Zeitpunkte ihrer Abtrennung in ihr Sonderdasein mit hinübernahmen.

Es ist ein großes Zeichen nicht nur für die Zähigkeit der beiden Völkern
einwohnenden Traditionskraft, sondern auch für die geistige Stärke d. h. für
die Ausbildung der beiden von dem Mutterstamme überkommenen Schatztheile,
daß die gewiß sehr verschiedenartigen Schicksale, welche beide Völker auf ihren
wohl lange dauernden Wanderungen aus dem arischen Stammlande nach Nord-
westen zu erfuhren und die so verschiedenartige Naturbeschaffenheit der Länder,
in welchen sie sich endlich niederließen, so wenig daran zu ändern vermochten,
daß noch heutzutage die Wurzelgleichheit des von dem Mutterstamme über¬
kommenen Geistesschatzes beider Voller in sehr vielen seiner Theile nachweisbar
ist. Denn die Erscheinung, daß den hellenischen und germanischen Sprach- und
Sagganzen dasselbe Gerippe zu Grunde liege, läßt sich nur durch die Annahme
erklären, daß die Sprache und Sage des Mutterstammes zur Zeit, als sie von
Hellenen und Germanen in ihr Sonderdasein hinübergenommen wurden, bereits
alt und stark genug waren, um dem geistigen Leben der austretenden Zweige
ein so festes Gepräge aufzudrücken, daß dasselbe den Einflüssen ihrer Wände-


Sage ihre Naturanschauungen in die Form menschlicher Begebenheiten ein¬
kleidet.

Diese formale Uebereinstimmung ist die Ursache, daß zwei an sich grund¬
verschiedene Wissenschaften zu einem Ganzen verbunden wurden.

Die Sage enthält also nichts Geschehenes, sondern nur Erdachtes, welches
in die Formen des Geschehenen eingekleidet wurde und eingekleidet werden
mußte, weil keine andere Form dafür vorhanden war.

Die Sagbildung beginnt mit dem ersten Gedanken des ersten Menschen
und ist mit dem Ausbau der Sprache vollendet. Die Geschichte beginnt mit
der. ersten Aufzeichnung des Geschehenen.

Aus dem Entwickelungsgange der Sage, welcher die fortwährende Versinn-
lichung ihres Stoffes anstrebt, ergibt sich, daß sie auch im Lause der Zeit keine
geschichtlichen Stoffe in sich aufnehmen kann.
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Aus unserer Ansicht von der Entstehung der Sage ergibt sich mit noth¬
wendiger Folge eine von der bisherigen abweichende Anschauung über das
Aller der hellenischen und germanischen Sage. Denn wenn die Sage eine
Zwillingsschwester der Sprache ist, wenn die Sagschvpfungst'rast und die Sprach-
schöpfungskraft in demselben Zeiträume absterben; wenn von da an die Fort-
entwickelung der Sprache und Sage auf Umbildung und Entlehnung beschränkt
bleibt, so müssen wir die deutsche und die griechische Sage für älter halten, als
das deutsche und griechische Volk. Lange bevor sich diese Vöikerzweige von
dem gemeinsamen Mutterstamme loslösten, bildete nämlich diejenige Sprache
und diejenige Sage den Geistesschatz dieses Mutterstammes^ welche jene Zweige
im Zeitpunkte ihrer Abtrennung in ihr Sonderdasein mit hinübernahmen.

Es ist ein großes Zeichen nicht nur für die Zähigkeit der beiden Völkern
einwohnenden Traditionskraft, sondern auch für die geistige Stärke d. h. für
die Ausbildung der beiden von dem Mutterstamme überkommenen Schatztheile,
daß die gewiß sehr verschiedenartigen Schicksale, welche beide Völker auf ihren
wohl lange dauernden Wanderungen aus dem arischen Stammlande nach Nord-
westen zu erfuhren und die so verschiedenartige Naturbeschaffenheit der Länder,
in welchen sie sich endlich niederließen, so wenig daran zu ändern vermochten,
daß noch heutzutage die Wurzelgleichheit des von dem Mutterstamme über¬
kommenen Geistesschatzes beider Voller in sehr vielen seiner Theile nachweisbar
ist. Denn die Erscheinung, daß den hellenischen und germanischen Sprach- und
Sagganzen dasselbe Gerippe zu Grunde liege, läßt sich nur durch die Annahme
erklären, daß die Sprache und Sage des Mutterstammes zur Zeit, als sie von
Hellenen und Germanen in ihr Sonderdasein hinübergenommen wurden, bereits
alt und stark genug waren, um dem geistigen Leben der austretenden Zweige
ein so festes Gepräge aufzudrücken, daß dasselbe den Einflüssen ihrer Wände-


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[0110] Sage ihre Naturanschauungen in die Form menschlicher Begebenheiten ein¬ kleidet. Diese formale Uebereinstimmung ist die Ursache, daß zwei an sich grund¬ verschiedene Wissenschaften zu einem Ganzen verbunden wurden. Die Sage enthält also nichts Geschehenes, sondern nur Erdachtes, welches in die Formen des Geschehenen eingekleidet wurde und eingekleidet werden mußte, weil keine andere Form dafür vorhanden war. Die Sagbildung beginnt mit dem ersten Gedanken des ersten Menschen und ist mit dem Ausbau der Sprache vollendet. Die Geschichte beginnt mit der. ersten Aufzeichnung des Geschehenen. Aus dem Entwickelungsgange der Sage, welcher die fortwährende Versinn- lichung ihres Stoffes anstrebt, ergibt sich, daß sie auch im Lause der Zeit keine geschichtlichen Stoffe in sich aufnehmen kann. ' Aus unserer Ansicht von der Entstehung der Sage ergibt sich mit noth¬ wendiger Folge eine von der bisherigen abweichende Anschauung über das Aller der hellenischen und germanischen Sage. Denn wenn die Sage eine Zwillingsschwester der Sprache ist, wenn die Sagschvpfungst'rast und die Sprach- schöpfungskraft in demselben Zeiträume absterben; wenn von da an die Fort- entwickelung der Sprache und Sage auf Umbildung und Entlehnung beschränkt bleibt, so müssen wir die deutsche und die griechische Sage für älter halten, als das deutsche und griechische Volk. Lange bevor sich diese Vöikerzweige von dem gemeinsamen Mutterstamme loslösten, bildete nämlich diejenige Sprache und diejenige Sage den Geistesschatz dieses Mutterstammes^ welche jene Zweige im Zeitpunkte ihrer Abtrennung in ihr Sonderdasein mit hinübernahmen. Es ist ein großes Zeichen nicht nur für die Zähigkeit der beiden Völkern einwohnenden Traditionskraft, sondern auch für die geistige Stärke d. h. für die Ausbildung der beiden von dem Mutterstamme überkommenen Schatztheile, daß die gewiß sehr verschiedenartigen Schicksale, welche beide Völker auf ihren wohl lange dauernden Wanderungen aus dem arischen Stammlande nach Nord- westen zu erfuhren und die so verschiedenartige Naturbeschaffenheit der Länder, in welchen sie sich endlich niederließen, so wenig daran zu ändern vermochten, daß noch heutzutage die Wurzelgleichheit des von dem Mutterstamme über¬ kommenen Geistesschatzes beider Voller in sehr vielen seiner Theile nachweisbar ist. Denn die Erscheinung, daß den hellenischen und germanischen Sprach- und Sagganzen dasselbe Gerippe zu Grunde liege, läßt sich nur durch die Annahme erklären, daß die Sprache und Sage des Mutterstammes zur Zeit, als sie von Hellenen und Germanen in ihr Sonderdasein hinübergenommen wurden, bereits alt und stark genug waren, um dem geistigen Leben der austretenden Zweige ein so festes Gepräge aufzudrücken, daß dasselbe den Einflüssen ihrer Wände-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/110>, abgerufen am 27.09.2024.