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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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wenn auch die Volksmasse ebenso unempfänglich für die Vergangenheit betrach¬
tet wird, wie heutzutage, doch das Bedürfniß der höheren Gesellschafts¬
classen nach geschichtlicher Belehrung zu befriedigen bestimmt sein konnten,
welchem später durch die geschriebenen Werke der Geschichte entsprochen
wurde.

Von den hellenischen Rhapsoden halten wir es für mehr als wahrschein¬
lich und von den nordischen Statten wissen wir es sicher, daß sie auch die Er¬
eignisse der Zeit besungen haben, in der sie lebten. Doch diese Lieder der
hellenischen Sänger sind verklungen, und die geschichtlichen Lieder der deutschen
Barden, der indischen und bayrischen, der finnischen und sarörischen Sänger
theilten ihr Schicksal, aber die heiligen Sagen, die sie besungen, Atlas und
Odyssee, Mahabharata, Schahnahme, Kalewala und die sarörischen Sigurd-
lieder haben sich in der mündlichen Ueberlieferung so lange frisch erhalten, daß
sie niedergeschrieben werden konnten.

Wir, übergehen die nur scheinbare Ausnahme der nordischen Skaldenliedcr.
weil in Bezug auf diese noch die Vorfrage zu entscheiden bleibt, wie viel von
ihnen der Sage, wie viel der Geschichte angehört, und welches Alter der letz-'
deren Classe zukommt. Diese Betrachtungen führen uns zu dem wichtigen
Folgesätze, daß die mündliche Ueberlieferung an sich keine Geschichtsquelle sein
könne und dies zu keiner Zeit gewesen sei, und daß sie sich zu einer solchen
nur dann erhebe, wenn sie niedergeschrieben und in schriftlicher Form erhalten
wird.

Ist aber das schriftliche Zeugniß die alleinige Quelle der Geschichte, so ist
diese Wissenschaft überhaupt nur eine Tochter der Bildung, weil sie eine solche
Entwicklung der Schrift voraussetzt, daß sie zur Aufzeichnung von Ereignissen
benutzt werden kann. Ein Volk ohne Schrift hat überhaupt keine Geschichte.

Worin liegt es aber, daß die gesungene oder erzählte Geschichte verhallt,
während die, gesungene oder erzählte Sage ewig tönt? Von unserem
Standpunkte ergibt sich die Antwort leicht. -- weil die Sage etwas An¬
deres als Geschichte, weil sie die gläubige Urdichtung der Menschheit ist. Die
Sage ist die Urform, in der sich der in den Menschen gelegte Urtrieb,
Gott zu suchen, verkörpert hat. Die Sagen waren ihm Glaubcnsausdruck.
und darum hielt er sie fest und konnte sie nicht fallen lassen, so lange sie sein
Glaubensbedürfniß befriedigten, und wenn dieses in der Folge in vollendeteren
Formen Befriedigung suchte, so vertraten ihm diese alten Glaubensformen die
Geschichte seiner Vorzeit, indem es zu diesem Zwecke nur noch eines kleinen
Schrittes in der versinnlichenden Richtung dieser Formen bedürfte, um die ge¬
glaubten Götter und Helden vollends in menschliche Könige und Königskinder
zu verwandeln und an sie die vorhandene Kunde der geschichtlichen Vergangen¬
heit zu heften. So entstand Sturlesons Hcimskringla, das Geschichtswerk des,


wenn auch die Volksmasse ebenso unempfänglich für die Vergangenheit betrach¬
tet wird, wie heutzutage, doch das Bedürfniß der höheren Gesellschafts¬
classen nach geschichtlicher Belehrung zu befriedigen bestimmt sein konnten,
welchem später durch die geschriebenen Werke der Geschichte entsprochen
wurde.

Von den hellenischen Rhapsoden halten wir es für mehr als wahrschein¬
lich und von den nordischen Statten wissen wir es sicher, daß sie auch die Er¬
eignisse der Zeit besungen haben, in der sie lebten. Doch diese Lieder der
hellenischen Sänger sind verklungen, und die geschichtlichen Lieder der deutschen
Barden, der indischen und bayrischen, der finnischen und sarörischen Sänger
theilten ihr Schicksal, aber die heiligen Sagen, die sie besungen, Atlas und
Odyssee, Mahabharata, Schahnahme, Kalewala und die sarörischen Sigurd-
lieder haben sich in der mündlichen Ueberlieferung so lange frisch erhalten, daß
sie niedergeschrieben werden konnten.

Wir, übergehen die nur scheinbare Ausnahme der nordischen Skaldenliedcr.
weil in Bezug auf diese noch die Vorfrage zu entscheiden bleibt, wie viel von
ihnen der Sage, wie viel der Geschichte angehört, und welches Alter der letz-'
deren Classe zukommt. Diese Betrachtungen führen uns zu dem wichtigen
Folgesätze, daß die mündliche Ueberlieferung an sich keine Geschichtsquelle sein
könne und dies zu keiner Zeit gewesen sei, und daß sie sich zu einer solchen
nur dann erhebe, wenn sie niedergeschrieben und in schriftlicher Form erhalten
wird.

Ist aber das schriftliche Zeugniß die alleinige Quelle der Geschichte, so ist
diese Wissenschaft überhaupt nur eine Tochter der Bildung, weil sie eine solche
Entwicklung der Schrift voraussetzt, daß sie zur Aufzeichnung von Ereignissen
benutzt werden kann. Ein Volk ohne Schrift hat überhaupt keine Geschichte.

Worin liegt es aber, daß die gesungene oder erzählte Geschichte verhallt,
während die, gesungene oder erzählte Sage ewig tönt? Von unserem
Standpunkte ergibt sich die Antwort leicht. — weil die Sage etwas An¬
deres als Geschichte, weil sie die gläubige Urdichtung der Menschheit ist. Die
Sage ist die Urform, in der sich der in den Menschen gelegte Urtrieb,
Gott zu suchen, verkörpert hat. Die Sagen waren ihm Glaubcnsausdruck.
und darum hielt er sie fest und konnte sie nicht fallen lassen, so lange sie sein
Glaubensbedürfniß befriedigten, und wenn dieses in der Folge in vollendeteren
Formen Befriedigung suchte, so vertraten ihm diese alten Glaubensformen die
Geschichte seiner Vorzeit, indem es zu diesem Zwecke nur noch eines kleinen
Schrittes in der versinnlichenden Richtung dieser Formen bedürfte, um die ge¬
glaubten Götter und Helden vollends in menschliche Könige und Königskinder
zu verwandeln und an sie die vorhandene Kunde der geschichtlichen Vergangen¬
heit zu heften. So entstand Sturlesons Hcimskringla, das Geschichtswerk des,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/106>, abgerufen am 27.09.2024.