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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band.

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fange des dreißigjährigen Krieges, ein Mann geboren wurde, welcher Gelegen¬
heit hatte, sich über den Verlauf dieses Krieges zu unterrichten, und daß er
^ als siebzigjähriger Greis (1688) diese Erfahrungen seinem zehnjährigen Enkel
so lange erzähle, bis er dieselben vollkommen inne hat; daß dieser als siebzig¬
jähriger Greis mit seinem zehnjährigen Enkel (1748) ebenso verfahre und dieser
dessen Beispiel im gleichen Alter (1808) befolge, so bedürfte es mithin nur
einer dreimaligen Übertragung der mündlichen Ueberlieferung, damit wir aus
dem Munde eines nun vicrundfünszigjährigen Mannes die Geschichte des
dreißigjährigen Krieges erfahren könnten. Wir befürchten aber keinen Wider¬
spruch, wenn wir behaupten, daß man in ganz Deutschland vergebens nach
einer solchen Ueberlieferung suchen würde.

Ebenso wenig möchte es gelingen, um von der Reihe der deutschen Kaiser zu
schweigen, die einfache Folge der preußischen Regenten von dem großen Kur¬
fürsten an. aus der streng mündlichen Ueberlieferung herzustellen. Ist doch das
Interesse des Menschen an der Geschichte seiner eigenen Vorfahren so gering,
daß die Meisten auf die Frage nach dem Namen und Stande ihrer Urgro߬
väter die Antwort schuldig bleiben. Eine Ausnahme macht hier freilich
der Adel, sobald man aber nach der Quelle seiner genaueren Familienkcnntniß
forscht, ergibt sich der geschriebene Stcunmbaum und das Familienarchiv als
die eigentlichen Träger der mündlichen Ueberlieferung.

Allerdings findet sich bei Völkern, in welchen der Stammverband noch
nicht gänzlich erloschen, wie bei den Iren, Schotten, Basken und Albanesen
ein besseres Gedächtniß für die Familiengeschichte, denn dort weiß in der
Regel jeder Einzelne die Namen seiner Vorfahren bis in das sechste, achte, ja
zehnte Glied anzugeben; wenn es aber erlaubt ist, die mit den Albanesen von
uns angestellten Proben zu verallgemeinern, so beschränkt sich diese Familien¬
kenntniß von dem Großvater an auf die nackten Namen der Vorfahren; der Zu¬
satz von Begebenheiten beginnt, wenn überhaupt, erst wieder bei dem Ahn¬
herrn des Geschlechtes und dieselben dehnen sich höchstens auf dessen
Söhne aus.

Außer der Frage nach den Namen der Urgroßväter seiner Mitmenschen
ist dem Leser auch eine andere Probe für den geschichtlichen Sinn derselben zur
Hand. Er braucht sich nur bei den ältesten Leuten der Gemeinde, in.welcher
er lebt, nach den von ihren Vorfahren stammenden mündlichen Ueberlieferungen
über deren Geschichte zu erkundigen und zu versuchen, wie weit er an der Hand
derselben in vie Vergangenheit zu dringen vermag. Nach den von dem Ver¬
fasser in Albanien") angestellten Versuchen dürste es ihm schwerlich gelingen.



Brai, s. z, B. die nach mündlichen Ueberlieferungen mifgezcichnetc Stndtchronik von stoben
in seinen Älbnnesischm Studien I. S. V7 und folg.

fange des dreißigjährigen Krieges, ein Mann geboren wurde, welcher Gelegen¬
heit hatte, sich über den Verlauf dieses Krieges zu unterrichten, und daß er
^ als siebzigjähriger Greis (1688) diese Erfahrungen seinem zehnjährigen Enkel
so lange erzähle, bis er dieselben vollkommen inne hat; daß dieser als siebzig¬
jähriger Greis mit seinem zehnjährigen Enkel (1748) ebenso verfahre und dieser
dessen Beispiel im gleichen Alter (1808) befolge, so bedürfte es mithin nur
einer dreimaligen Übertragung der mündlichen Ueberlieferung, damit wir aus
dem Munde eines nun vicrundfünszigjährigen Mannes die Geschichte des
dreißigjährigen Krieges erfahren könnten. Wir befürchten aber keinen Wider¬
spruch, wenn wir behaupten, daß man in ganz Deutschland vergebens nach
einer solchen Ueberlieferung suchen würde.

Ebenso wenig möchte es gelingen, um von der Reihe der deutschen Kaiser zu
schweigen, die einfache Folge der preußischen Regenten von dem großen Kur¬
fürsten an. aus der streng mündlichen Ueberlieferung herzustellen. Ist doch das
Interesse des Menschen an der Geschichte seiner eigenen Vorfahren so gering,
daß die Meisten auf die Frage nach dem Namen und Stande ihrer Urgro߬
väter die Antwort schuldig bleiben. Eine Ausnahme macht hier freilich
der Adel, sobald man aber nach der Quelle seiner genaueren Familienkcnntniß
forscht, ergibt sich der geschriebene Stcunmbaum und das Familienarchiv als
die eigentlichen Träger der mündlichen Ueberlieferung.

Allerdings findet sich bei Völkern, in welchen der Stammverband noch
nicht gänzlich erloschen, wie bei den Iren, Schotten, Basken und Albanesen
ein besseres Gedächtniß für die Familiengeschichte, denn dort weiß in der
Regel jeder Einzelne die Namen seiner Vorfahren bis in das sechste, achte, ja
zehnte Glied anzugeben; wenn es aber erlaubt ist, die mit den Albanesen von
uns angestellten Proben zu verallgemeinern, so beschränkt sich diese Familien¬
kenntniß von dem Großvater an auf die nackten Namen der Vorfahren; der Zu¬
satz von Begebenheiten beginnt, wenn überhaupt, erst wieder bei dem Ahn¬
herrn des Geschlechtes und dieselben dehnen sich höchstens auf dessen
Söhne aus.

Außer der Frage nach den Namen der Urgroßväter seiner Mitmenschen
ist dem Leser auch eine andere Probe für den geschichtlichen Sinn derselben zur
Hand. Er braucht sich nur bei den ältesten Leuten der Gemeinde, in.welcher
er lebt, nach den von ihren Vorfahren stammenden mündlichen Ueberlieferungen
über deren Geschichte zu erkundigen und zu versuchen, wie weit er an der Hand
derselben in vie Vergangenheit zu dringen vermag. Nach den von dem Ver¬
fasser in Albanien") angestellten Versuchen dürste es ihm schwerlich gelingen.



Brai, s. z, B. die nach mündlichen Ueberlieferungen mifgezcichnetc Stndtchronik von stoben
in seinen Älbnnesischm Studien I. S. V7 und folg.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114855/103>, abgerufen am 27.09.2024.