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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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dem mittlern Durchschnitt der Sittlichkeit im Volke zu machen, und man wird
mit Erstaunen sehen, wie schwer das ist. Dürfen wir nach den Strafen schließen,
welche die ältesten Volksrechte auf alle möglichen scheußlichen Missethaten setzten,
oder nach den Greuelthaten im Hofhalt der Merowinger? Auch wo ein Fürsten¬
leben verhältnißmäßig sichere und tüchtige Zeitgenossen gefunden hat, welche
uns die Kunde desselben überliefert haben, sind die Notizen über die
Sittlichkeit des Volkes sehr ungenügend, welche wir aus ihren Werken zu¬
sammentragen können, um ihr eigenes Urtheil über Werth oder Unwerth des
Fürsten zu controliren. Es gab damals noch kaum Etwas von dem, was wir
öffentliche Meinung nennen, und wir dürfen höchstens sagen, daß die Ge°
schichtsschrciber uns den Eindruck von Männern machen, welche Vertrauen ver¬
dienen. Wenn ein Fürstensvhn sich in wiederholten Empörungen gegen seinen
Vater erhob, wie weit wurde er durch die Auffassung seiner Zeit, durch seine
innersten Motive nicht gerechtfertigt, oder entschuldigt? Selbst bei Situationen,
welche sehr klar scheinen und uns in greller Beleuchtung erhalten sind, empfin¬
den wir einen Mangel in unserm Verständniß. Was arbeitete in der Seele
Heinrichs des Vierten auf dem Zuge nach Canossa? Die Antwort scheint so
leicht, und doch enthält auch dieses Moment aus seinem schwer verständlichen
Leben bei näherer Prüfung noch Zweifelhaftes.

Allerdings wird sich der Historiker zuletzt bescheiden müssen, nicht viel mehr
von dem historischen Charakter und den innern Motiven seines Helden zu be¬
richten, als die Zeitgenossen desselben zu verkünden im Stande waren. Denn
gerade das ist der epischen Periode des Volkslebens eigen, daß der innere
Kampf des Individuums, seine Empfindungen, Reflexionen, das Werden seines
Wollens in den gleichzeitigen Berichten noch keinen Ausdruck gefunden hat.
Das Volk, seine Dichter und Geschichtsschreiber sehen den Mann scharf und gut
im Augenblicke der That, sie empfinden -- wenigstens bei den Deutschen, -- das
Charakteristische seiner Lebensäußerungen sehr innig, mit Rührung, Erhebung,
Laune, Abneigung. Aber nur die Momente, in denen sein Leben sich nach
Außen kehrt, sind jener Zeit interessant, imponirend, verständlich. Sogar ihre
Sprache hat für die innern Processe bis zum Thun nur dürftigen Ausdruck,
auch die leidenschaftlichste Bewegung wird vorzugsweise in der Wirkung ge¬
nossen, welche sie auf Andere ausübt und in der Beleuchtung, welche sie der
Umgebung mittheilt. Für die Gemüthsprocesse, sowie für die Rückwirkungen,
welche das Geschehene auf Empfindungen und Charakter des Mannes ausübt,
fehlt jede Technik der Darstellung, fehlt die Theilnahme. Sogar die Schilde¬
rung offen liegender Charaktereigenthümlichkciten, sowie ein reiches Detail des
Geschehenen sind bei dem Erzähler nicht häufig, die verhältnißmäßig trockne Auf¬
zählung der Begebenheiten wird mehr oder weniger oft durch Anekdoten unter¬
brochen, ausführlichere Berichte solcher erwähnten Momente, in denen eine einzelne


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dem mittlern Durchschnitt der Sittlichkeit im Volke zu machen, und man wird
mit Erstaunen sehen, wie schwer das ist. Dürfen wir nach den Strafen schließen,
welche die ältesten Volksrechte auf alle möglichen scheußlichen Missethaten setzten,
oder nach den Greuelthaten im Hofhalt der Merowinger? Auch wo ein Fürsten¬
leben verhältnißmäßig sichere und tüchtige Zeitgenossen gefunden hat, welche
uns die Kunde desselben überliefert haben, sind die Notizen über die
Sittlichkeit des Volkes sehr ungenügend, welche wir aus ihren Werken zu¬
sammentragen können, um ihr eigenes Urtheil über Werth oder Unwerth des
Fürsten zu controliren. Es gab damals noch kaum Etwas von dem, was wir
öffentliche Meinung nennen, und wir dürfen höchstens sagen, daß die Ge°
schichtsschrciber uns den Eindruck von Männern machen, welche Vertrauen ver¬
dienen. Wenn ein Fürstensvhn sich in wiederholten Empörungen gegen seinen
Vater erhob, wie weit wurde er durch die Auffassung seiner Zeit, durch seine
innersten Motive nicht gerechtfertigt, oder entschuldigt? Selbst bei Situationen,
welche sehr klar scheinen und uns in greller Beleuchtung erhalten sind, empfin¬
den wir einen Mangel in unserm Verständniß. Was arbeitete in der Seele
Heinrichs des Vierten auf dem Zuge nach Canossa? Die Antwort scheint so
leicht, und doch enthält auch dieses Moment aus seinem schwer verständlichen
Leben bei näherer Prüfung noch Zweifelhaftes.

Allerdings wird sich der Historiker zuletzt bescheiden müssen, nicht viel mehr
von dem historischen Charakter und den innern Motiven seines Helden zu be¬
richten, als die Zeitgenossen desselben zu verkünden im Stande waren. Denn
gerade das ist der epischen Periode des Volkslebens eigen, daß der innere
Kampf des Individuums, seine Empfindungen, Reflexionen, das Werden seines
Wollens in den gleichzeitigen Berichten noch keinen Ausdruck gefunden hat.
Das Volk, seine Dichter und Geschichtsschreiber sehen den Mann scharf und gut
im Augenblicke der That, sie empfinden — wenigstens bei den Deutschen, — das
Charakteristische seiner Lebensäußerungen sehr innig, mit Rührung, Erhebung,
Laune, Abneigung. Aber nur die Momente, in denen sein Leben sich nach
Außen kehrt, sind jener Zeit interessant, imponirend, verständlich. Sogar ihre
Sprache hat für die innern Processe bis zum Thun nur dürftigen Ausdruck,
auch die leidenschaftlichste Bewegung wird vorzugsweise in der Wirkung ge¬
nossen, welche sie auf Andere ausübt und in der Beleuchtung, welche sie der
Umgebung mittheilt. Für die Gemüthsprocesse, sowie für die Rückwirkungen,
welche das Geschehene auf Empfindungen und Charakter des Mannes ausübt,
fehlt jede Technik der Darstellung, fehlt die Theilnahme. Sogar die Schilde¬
rung offen liegender Charaktereigenthümlichkciten, sowie ein reiches Detail des
Geschehenen sind bei dem Erzähler nicht häufig, die verhältnißmäßig trockne Auf¬
zählung der Begebenheiten wird mehr oder weniger oft durch Anekdoten unter¬
brochen, ausführlichere Berichte solcher erwähnten Momente, in denen eine einzelne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/67>, abgerufen am 06.02.2025.