Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.und dessen innern Zusammenhang zur Charakteristik eines Helden oder einer Denn die Geschichtsschreibung ist allerdings bei jedem berufenen Historiker Zu solcher vorsichtigen und wahrhaften Behandlung ist gegenüber dem und dessen innern Zusammenhang zur Charakteristik eines Helden oder einer Denn die Geschichtsschreibung ist allerdings bei jedem berufenen Historiker Zu solcher vorsichtigen und wahrhaften Behandlung ist gegenüber dem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0066" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114380"/> <p xml:id="ID_219" prev="#ID_218"> und dessen innern Zusammenhang zur Charakteristik eines Helden oder einer<lb/> Zeit benutzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_220"> Denn die Geschichtsschreibung ist allerdings bei jedem berufenen Historiker<lb/> ein Neuschaffen der Vergangenheit, ein schöpferischer Proceß, bei welchem er<lb/> den ganzen Strom der Ueberlieferungen in seine Seele zu leiten sucht, um<lb/> ihn dort nach den Gesichtspunkten, welche er gefunden hat, selbstkräf¬<lb/> tig zu organisiren. Immer wird sein Wesen der stille Mittelpunkt seiner<lb/> Arbeit sein, und auch dem'kleinsten Detail Farbe, Licht, Bedeutung geben,<lb/> immer wird der Leser nicht nur durch seine Beweise überzeugt werden,<lb/> er wird auch kurzweg an ihn glauben müssen, an seine Wahrheitsliebe, seine<lb/> Kenntniß der gesammten Stvsfmasse, Damit das aber möglich sei, muß<lb/> der Historiker seinen Leser mit voller Offenheit zum Vertrauten machen, er<lb/> muß ihn in allen wichtigeren Fällen, wo er ergänzt, Unsicheres combinirt,<lb/> muthmaßt, — wenigstens bei ausgeführter Geschichtsschreibung — durch die<lb/> Form seiner Darstellung von der eigenen Zuthat in Kennmiß setzen. Und<lb/> er hat dafür zu sorgen, daß durch solche Vorsicht das Interesse an seinem Be¬<lb/> richt nicht verringert, sondern erhöht wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_221" next="#ID_222"> Zu solcher vorsichtigen und wahrhaften Behandlung ist gegenüber dem<lb/> deutschen Mittelalter ganz besonderer Grund. Es lohnt, nnige Besonderhei¬<lb/> ten, welche in dieser Periode an den Charakteren haften, wenigstens anzudeuten.<lb/> Zunächst sei Bekanntes erwähnt. Es ist die epische Zeit unserer Vergangen-<lb/> heit. Die Unfreiheit des Individuums ist weit größer, jeder Einzelne ist<lb/> stärker durch die Interessen und Gewohnheiten seines Kreises beeinflußt. Die<lb/> Eindrücke, welche von Außen in die Seele falle», werden von behender Phan¬<lb/> tasie schnell umsponnen, verzogen, gefärbt; zwar scharf und energisch ist die Thätig¬<lb/> keit der Sinne, aber das Leben der Natur, das eigene Leben und das Treiben<lb/> Anderer werden weit weniger nach dem verständigen Zusammenhange der Er¬<lb/> scheinungen aufgefaßt, als nach den Bedürfnissen des Gemüths gedeutet.<lb/> Leicht bäumt der Egoismus des Einzelnen auf und stellt sich zum Kampf,<lb/> ebenso behende ist das Fügen unter übermächtige Gewalt. Die Naivetät eines<lb/> Kindes mag in demselben Mann mit raffinirter List und mit Lastern verbun¬<lb/> den sein, welche wir in der Regel als Auswuchs einer verderbten Civilisation<lb/> betrachten. Und diese Unfreiheit sowie die Vereinigung der — scheinbar — stärksten<lb/> Contrast ein Empfindung und Methode des Handelns finden sich bei den Führern<lb/> der Nation ebenso sehr als bei dem Privatmann. Es ist offenbar, daß<lb/> schon dadurch das Urtheil über Charaktere, Werth oder Unwerth ihrer<lb/> einzelnen Handlungen, über Stimmungen und Motive erschwert wird. Wir<lb/> sollen den Mann nach Bildung und Moral seiner Zeit, und helpe Zeit<lb/> nach Bildung und Moral der unsern beurtheilen. Man versuche nun in<lb/> irgend einem der frühen Jahrhunderte des Mittelalters sich eine Art Bild von</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0066]
und dessen innern Zusammenhang zur Charakteristik eines Helden oder einer
Zeit benutzt.
Denn die Geschichtsschreibung ist allerdings bei jedem berufenen Historiker
ein Neuschaffen der Vergangenheit, ein schöpferischer Proceß, bei welchem er
den ganzen Strom der Ueberlieferungen in seine Seele zu leiten sucht, um
ihn dort nach den Gesichtspunkten, welche er gefunden hat, selbstkräf¬
tig zu organisiren. Immer wird sein Wesen der stille Mittelpunkt seiner
Arbeit sein, und auch dem'kleinsten Detail Farbe, Licht, Bedeutung geben,
immer wird der Leser nicht nur durch seine Beweise überzeugt werden,
er wird auch kurzweg an ihn glauben müssen, an seine Wahrheitsliebe, seine
Kenntniß der gesammten Stvsfmasse, Damit das aber möglich sei, muß
der Historiker seinen Leser mit voller Offenheit zum Vertrauten machen, er
muß ihn in allen wichtigeren Fällen, wo er ergänzt, Unsicheres combinirt,
muthmaßt, — wenigstens bei ausgeführter Geschichtsschreibung — durch die
Form seiner Darstellung von der eigenen Zuthat in Kennmiß setzen. Und
er hat dafür zu sorgen, daß durch solche Vorsicht das Interesse an seinem Be¬
richt nicht verringert, sondern erhöht wird.
Zu solcher vorsichtigen und wahrhaften Behandlung ist gegenüber dem
deutschen Mittelalter ganz besonderer Grund. Es lohnt, nnige Besonderhei¬
ten, welche in dieser Periode an den Charakteren haften, wenigstens anzudeuten.
Zunächst sei Bekanntes erwähnt. Es ist die epische Zeit unserer Vergangen-
heit. Die Unfreiheit des Individuums ist weit größer, jeder Einzelne ist
stärker durch die Interessen und Gewohnheiten seines Kreises beeinflußt. Die
Eindrücke, welche von Außen in die Seele falle», werden von behender Phan¬
tasie schnell umsponnen, verzogen, gefärbt; zwar scharf und energisch ist die Thätig¬
keit der Sinne, aber das Leben der Natur, das eigene Leben und das Treiben
Anderer werden weit weniger nach dem verständigen Zusammenhange der Er¬
scheinungen aufgefaßt, als nach den Bedürfnissen des Gemüths gedeutet.
Leicht bäumt der Egoismus des Einzelnen auf und stellt sich zum Kampf,
ebenso behende ist das Fügen unter übermächtige Gewalt. Die Naivetät eines
Kindes mag in demselben Mann mit raffinirter List und mit Lastern verbun¬
den sein, welche wir in der Regel als Auswuchs einer verderbten Civilisation
betrachten. Und diese Unfreiheit sowie die Vereinigung der — scheinbar — stärksten
Contrast ein Empfindung und Methode des Handelns finden sich bei den Führern
der Nation ebenso sehr als bei dem Privatmann. Es ist offenbar, daß
schon dadurch das Urtheil über Charaktere, Werth oder Unwerth ihrer
einzelnen Handlungen, über Stimmungen und Motive erschwert wird. Wir
sollen den Mann nach Bildung und Moral seiner Zeit, und helpe Zeit
nach Bildung und Moral der unsern beurtheilen. Man versuche nun in
irgend einem der frühen Jahrhunderte des Mittelalters sich eine Art Bild von
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |