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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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alle sind mit einen Eifer beim Spiele, den kaum eine hineinschlagende Bombe
zu stören vermöchte, wie sie vor Sebastopol nicht die Gesellschaft um den Koch¬
topf vertrieb. Blicken wir aber vor uns in die Thalsenkung herab, so gewahren
wir in geringer Entfernung die gigantischen, himmelanstrebenden Wölbungen
des Colosseums. An seinem Fuß halten winzigklein einige Fiaker, Reitknechte
tränken ihre Handpferde an der Nees, suckans, in der die Gladiatoren ihre'
verwundeten Glieder wuschen; eine Gesellschaft von Herren und Damen naht,
zu einem Ritt in die Campagna.

Titus baute das Colosseum, er, der jeden Tag für einen verlorenen er¬
klärte, an dem er nicht ein gutes Werk gethan habe. Ob er den Tag der
Zerstörung Jerusalems und der Vernichtung des jüdischen Volks auch unter
seine guten Werke rechnete? Es gibt folgende Fabel: Als Titus mit den Schä¬
tzen des mosaischen Tempels beladen zu Schiffe heimkehrte, überfiel ihn ein
heftiger Sturm. Titus rief spottend, der alte Judengott scheine nur Gewalt
über das Wasser zu haben, denn die alten Riesengeschlechter habe er durch die
Sündfluth, den König Pharao durch das rothe Meer vernichtet, auf dem festen
Lande Spotte er seiner. Da rief eine Stimme vom Himmel: "Gottloser, von
Gottlosen stammend, das kleinste und schwächste meiner Geschöpfe des Fest¬
landes soll dir meine Macht zeigen." Der Sturm legte sich, Titus landete,
und als er unter dem Jauchzen des Volks in Rom einzog, flog ihm eine Mücke
ins Ohr. fühlte sich bis ins Gehirn hinein und verursachte ihm schreckliche
Qualen durch sieben schmerzvolle Jahre. Einst ging er an einer Schmiede¬
werkstatt vorüber; bei den Ambosschlägen hörte die Mücke auf zu summen. Tag
und Nacht mußte nun ein Schmied im Palast arbeiten. Dreißig Tage war die
Mücke stille, dann gewöhnte sie sich an den dröhnenden Schlag und fuhr
fort, im Kopfe des Kaisers zu quälen bis zu seinem Tode, und als man
sein Gehirn öffnete, fand man dann die Mücke, so groß wie eine Faust, mit
kupfernen Krallen und Scheeren! Andere behaupten, es sei eine Grille ge¬
wesen.

Wir treten durch eine von den Bogenhallen in das Innere des Colosseums.
Nicht die Fahrstraße, wohl aber der Weg für die Fußgänger nach dem Lateran
führt hindurch. Wie thürmt sich in gewaltigen Kreisen um uns herum Bogen
auf Bogen! Welche üppige Vegetation von Schlingpflanzen, wildem Lorbeer.
Ginster und gelben Levkoyen wuchert in den Spalten und auf den Zinnen
des alten Gemäuers! Wilde Tauben und Raben nisten in den Mauerlöchern,
durch die Wölbungen und Fensteröffnungen heult der Wind. Wie mächtig
wird unsere Phantasie gefaßt von dem Eindrucke des Gigantischen dieses Bau¬
werks! In lebendigen Zügen und gaukelnden Bildern treten die wechselvollen
Schicksale, welche diese geschwärzten Mauern erlebt haben, vor unsere Seele.
Wir sehen die 80.000 reihenweis um das Gebäude herumlaufenden Sitzplätze


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alle sind mit einen Eifer beim Spiele, den kaum eine hineinschlagende Bombe
zu stören vermöchte, wie sie vor Sebastopol nicht die Gesellschaft um den Koch¬
topf vertrieb. Blicken wir aber vor uns in die Thalsenkung herab, so gewahren
wir in geringer Entfernung die gigantischen, himmelanstrebenden Wölbungen
des Colosseums. An seinem Fuß halten winzigklein einige Fiaker, Reitknechte
tränken ihre Handpferde an der Nees, suckans, in der die Gladiatoren ihre'
verwundeten Glieder wuschen; eine Gesellschaft von Herren und Damen naht,
zu einem Ritt in die Campagna.

Titus baute das Colosseum, er, der jeden Tag für einen verlorenen er¬
klärte, an dem er nicht ein gutes Werk gethan habe. Ob er den Tag der
Zerstörung Jerusalems und der Vernichtung des jüdischen Volks auch unter
seine guten Werke rechnete? Es gibt folgende Fabel: Als Titus mit den Schä¬
tzen des mosaischen Tempels beladen zu Schiffe heimkehrte, überfiel ihn ein
heftiger Sturm. Titus rief spottend, der alte Judengott scheine nur Gewalt
über das Wasser zu haben, denn die alten Riesengeschlechter habe er durch die
Sündfluth, den König Pharao durch das rothe Meer vernichtet, auf dem festen
Lande Spotte er seiner. Da rief eine Stimme vom Himmel: „Gottloser, von
Gottlosen stammend, das kleinste und schwächste meiner Geschöpfe des Fest¬
landes soll dir meine Macht zeigen." Der Sturm legte sich, Titus landete,
und als er unter dem Jauchzen des Volks in Rom einzog, flog ihm eine Mücke
ins Ohr. fühlte sich bis ins Gehirn hinein und verursachte ihm schreckliche
Qualen durch sieben schmerzvolle Jahre. Einst ging er an einer Schmiede¬
werkstatt vorüber; bei den Ambosschlägen hörte die Mücke auf zu summen. Tag
und Nacht mußte nun ein Schmied im Palast arbeiten. Dreißig Tage war die
Mücke stille, dann gewöhnte sie sich an den dröhnenden Schlag und fuhr
fort, im Kopfe des Kaisers zu quälen bis zu seinem Tode, und als man
sein Gehirn öffnete, fand man dann die Mücke, so groß wie eine Faust, mit
kupfernen Krallen und Scheeren! Andere behaupten, es sei eine Grille ge¬
wesen.

Wir treten durch eine von den Bogenhallen in das Innere des Colosseums.
Nicht die Fahrstraße, wohl aber der Weg für die Fußgänger nach dem Lateran
führt hindurch. Wie thürmt sich in gewaltigen Kreisen um uns herum Bogen
auf Bogen! Welche üppige Vegetation von Schlingpflanzen, wildem Lorbeer.
Ginster und gelben Levkoyen wuchert in den Spalten und auf den Zinnen
des alten Gemäuers! Wilde Tauben und Raben nisten in den Mauerlöchern,
durch die Wölbungen und Fensteröffnungen heult der Wind. Wie mächtig
wird unsere Phantasie gefaßt von dem Eindrucke des Gigantischen dieses Bau¬
werks! In lebendigen Zügen und gaukelnden Bildern treten die wechselvollen
Schicksale, welche diese geschwärzten Mauern erlebt haben, vor unsere Seele.
Wir sehen die 80.000 reihenweis um das Gebäude herumlaufenden Sitzplätze


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/523>, abgerufen am 05.02.2025.