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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Acten entstanden, obwohl ein Proceß vom Hauptmann der Rhod bis zum Gro¬
ßen Rath mehre Instanzen durchlaufen kann.

Diese letztern Einrichtungen erscheinen sehr zweckmäßig für die meisten Fälle.
Indeß darf man nicht glauben, hier leine Klagen über Parteilichkeit und Un¬
gerechtigkeit zu hören. Beide Parteien haben natürlich Recht, und doch bekommt
nur die eine Recht. Das ist überall so in der Welt, aber nicht überall ist wie
in Appenzell auch gesorgt, daß die verlierende Partei diese Wahrheit auch aus¬
sprechen darf. Nach unsrer Quelle nämlich gestattet man hier jedem, der einen
Proceß verloren hat, einen Tag lang nach Belieben auf Gericht und Obrigkeit
zu schimpfen. "Ein Ueberrest des Urtheilscheltens im ältern deutschen Recht", be¬
merkt Osenbrüggen dazu, "liegt darin wohl nicht, wohl aber findet sich auch
im altfranzösischen Recht der Satz: "it tirut leuWör 24 luzures aux Miävui'L
pour ins-neure ^uges."

Die Appenzeller machen sich diese Vergünstigung wacker zu Nutze, und
wie sie sich dadurch das Herz erleichtern, bereiten sie als witzige Zungen auch
ihren Mitmenschen bei solcher Gelegenheit eine angenehme Unterhaltung,
und die Frau zu Hause hat den Verdruß des Mannes nicht allein zu ge¬
nießen.

Gemüthlichkeit und Billigkeit im Urtheil zeigt folgender scherzhafte Fall.
"Seit Jahren," so erzählt unser Berichterstatter, "ist in Appenzell ein häufiger,
beliebter Gast Herr S. von Se. Gallen. Wenn er im Flecken anlangt, reicht
ihm die Gastwirthin aus dem Schranke seinen Appenzeller Anzug, die rothe
Weste, das schwarze Käppchen, er kämmt sein Haar a l'^ppc-uiitzll, nahete und
schreit wie ein Senn, kurz, wird ein Appenzeller wie er leibt und lebt. Eines
Abends, als er in etwas erhöhter Vitalität vom Weißbad heimkehrt, trifft er
auf der Straße in Appenzell den Nachtwächter, der gerade die Stunde abrufen
und die Einwohner mahlten will, den Schlaf der Gerechten zu suchen:


Jez betet und jez göhnt ins Bett,
Und wer e rücihig Gwisse hat,
Schlof sanft und wohl! Im Himmel wacht
E heiter Aug die ganzi Nacht.

Herr S. hatte wohl ein ruhig Gewissen, aber die Phantasie war unruhig.
Es überkommt ihn die unwiderstehliche Lust, einmal den Nachtwächter von
Appenzell zu spielen/ Er überredet den Diener der Nacht, ihm Rock, Mütze,
Horn und Morgenstern zu borgen, und alsbald ruft er die Stunde ab, als
wenn er ein geborner Nachtwächter wäre. Die Appenzeller erkannten aber den
Unterschied von Nachtwächter und Nachtwächter, und als am andern Morgen
der bisherige wohlbestallte Wächter vor "die Herren" gefordert wurde, merkte
er wohl, daß seine Stunde geschlagen habe, nur eine andere als die gewöhn¬
lichen Stunden, deren Herold er war. Aber zu seiner angenehmen Ueberraschung


Acten entstanden, obwohl ein Proceß vom Hauptmann der Rhod bis zum Gro¬
ßen Rath mehre Instanzen durchlaufen kann.

Diese letztern Einrichtungen erscheinen sehr zweckmäßig für die meisten Fälle.
Indeß darf man nicht glauben, hier leine Klagen über Parteilichkeit und Un¬
gerechtigkeit zu hören. Beide Parteien haben natürlich Recht, und doch bekommt
nur die eine Recht. Das ist überall so in der Welt, aber nicht überall ist wie
in Appenzell auch gesorgt, daß die verlierende Partei diese Wahrheit auch aus¬
sprechen darf. Nach unsrer Quelle nämlich gestattet man hier jedem, der einen
Proceß verloren hat, einen Tag lang nach Belieben auf Gericht und Obrigkeit
zu schimpfen. „Ein Ueberrest des Urtheilscheltens im ältern deutschen Recht", be¬
merkt Osenbrüggen dazu, „liegt darin wohl nicht, wohl aber findet sich auch
im altfranzösischen Recht der Satz: „it tirut leuWör 24 luzures aux Miävui'L
pour ins-neure ^uges."

Die Appenzeller machen sich diese Vergünstigung wacker zu Nutze, und
wie sie sich dadurch das Herz erleichtern, bereiten sie als witzige Zungen auch
ihren Mitmenschen bei solcher Gelegenheit eine angenehme Unterhaltung,
und die Frau zu Hause hat den Verdruß des Mannes nicht allein zu ge¬
nießen.

Gemüthlichkeit und Billigkeit im Urtheil zeigt folgender scherzhafte Fall.
„Seit Jahren," so erzählt unser Berichterstatter, „ist in Appenzell ein häufiger,
beliebter Gast Herr S. von Se. Gallen. Wenn er im Flecken anlangt, reicht
ihm die Gastwirthin aus dem Schranke seinen Appenzeller Anzug, die rothe
Weste, das schwarze Käppchen, er kämmt sein Haar a l'^ppc-uiitzll, nahete und
schreit wie ein Senn, kurz, wird ein Appenzeller wie er leibt und lebt. Eines
Abends, als er in etwas erhöhter Vitalität vom Weißbad heimkehrt, trifft er
auf der Straße in Appenzell den Nachtwächter, der gerade die Stunde abrufen
und die Einwohner mahlten will, den Schlaf der Gerechten zu suchen:


Jez betet und jez göhnt ins Bett,
Und wer e rücihig Gwisse hat,
Schlof sanft und wohl! Im Himmel wacht
E heiter Aug die ganzi Nacht.

Herr S. hatte wohl ein ruhig Gewissen, aber die Phantasie war unruhig.
Es überkommt ihn die unwiderstehliche Lust, einmal den Nachtwächter von
Appenzell zu spielen/ Er überredet den Diener der Nacht, ihm Rock, Mütze,
Horn und Morgenstern zu borgen, und alsbald ruft er die Stunde ab, als
wenn er ein geborner Nachtwächter wäre. Die Appenzeller erkannten aber den
Unterschied von Nachtwächter und Nachtwächter, und als am andern Morgen
der bisherige wohlbestallte Wächter vor „die Herren" gefordert wurde, merkte
er wohl, daß seine Stunde geschlagen habe, nur eine andere als die gewöhn¬
lichen Stunden, deren Herold er war. Aber zu seiner angenehmen Ueberraschung


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[0503] Acten entstanden, obwohl ein Proceß vom Hauptmann der Rhod bis zum Gro¬ ßen Rath mehre Instanzen durchlaufen kann. Diese letztern Einrichtungen erscheinen sehr zweckmäßig für die meisten Fälle. Indeß darf man nicht glauben, hier leine Klagen über Parteilichkeit und Un¬ gerechtigkeit zu hören. Beide Parteien haben natürlich Recht, und doch bekommt nur die eine Recht. Das ist überall so in der Welt, aber nicht überall ist wie in Appenzell auch gesorgt, daß die verlierende Partei diese Wahrheit auch aus¬ sprechen darf. Nach unsrer Quelle nämlich gestattet man hier jedem, der einen Proceß verloren hat, einen Tag lang nach Belieben auf Gericht und Obrigkeit zu schimpfen. „Ein Ueberrest des Urtheilscheltens im ältern deutschen Recht", be¬ merkt Osenbrüggen dazu, „liegt darin wohl nicht, wohl aber findet sich auch im altfranzösischen Recht der Satz: „it tirut leuWör 24 luzures aux Miävui'L pour ins-neure ^uges." Die Appenzeller machen sich diese Vergünstigung wacker zu Nutze, und wie sie sich dadurch das Herz erleichtern, bereiten sie als witzige Zungen auch ihren Mitmenschen bei solcher Gelegenheit eine angenehme Unterhaltung, und die Frau zu Hause hat den Verdruß des Mannes nicht allein zu ge¬ nießen. Gemüthlichkeit und Billigkeit im Urtheil zeigt folgender scherzhafte Fall. „Seit Jahren," so erzählt unser Berichterstatter, „ist in Appenzell ein häufiger, beliebter Gast Herr S. von Se. Gallen. Wenn er im Flecken anlangt, reicht ihm die Gastwirthin aus dem Schranke seinen Appenzeller Anzug, die rothe Weste, das schwarze Käppchen, er kämmt sein Haar a l'^ppc-uiitzll, nahete und schreit wie ein Senn, kurz, wird ein Appenzeller wie er leibt und lebt. Eines Abends, als er in etwas erhöhter Vitalität vom Weißbad heimkehrt, trifft er auf der Straße in Appenzell den Nachtwächter, der gerade die Stunde abrufen und die Einwohner mahlten will, den Schlaf der Gerechten zu suchen: Jez betet und jez göhnt ins Bett, Und wer e rücihig Gwisse hat, Schlof sanft und wohl! Im Himmel wacht E heiter Aug die ganzi Nacht. Herr S. hatte wohl ein ruhig Gewissen, aber die Phantasie war unruhig. Es überkommt ihn die unwiderstehliche Lust, einmal den Nachtwächter von Appenzell zu spielen/ Er überredet den Diener der Nacht, ihm Rock, Mütze, Horn und Morgenstern zu borgen, und alsbald ruft er die Stunde ab, als wenn er ein geborner Nachtwächter wäre. Die Appenzeller erkannten aber den Unterschied von Nachtwächter und Nachtwächter, und als am andern Morgen der bisherige wohlbestallte Wächter vor „die Herren" gefordert wurde, merkte er wohl, daß seine Stunde geschlagen habe, nur eine andere als die gewöhn¬ lichen Stunden, deren Herold er war. Aber zu seiner angenehmen Ueberraschung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/503>, abgerufen am 06.02.2025.