Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.und Tod entscheidet. Die Sitzung wird bei offenen Thüren gehalten. Der Vor einigen Jahren noch geschah es, daß eine zum Tode verurtheilte Kindes¬ Die Leser werden nach dem Gesagten vermuthlich erwarten, daß auch die ") Namentlich in solchen Fällen, wo es sich um sogenannte "Heimathslose" handelte.
und Tod entscheidet. Die Sitzung wird bei offenen Thüren gehalten. Der Vor einigen Jahren noch geschah es, daß eine zum Tode verurtheilte Kindes¬ Die Leser werden nach dem Gesagten vermuthlich erwarten, daß auch die ") Namentlich in solchen Fällen, wo es sich um sogenannte „Heimathslose" handelte.
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und Tod entscheidet. Die Sitzung wird bei offenen Thüren gehalten. Der
als öffentlicher Ankläger auftretende Beamte führt noch den alten Namen
„Reichsvogt", der Armenpfleger spricht als Vertheidiger — „der eine macht
die Gerechtigkeit, der andere die Barmherzigkeit" sagen die Appenzeller. Haben
beide ihre Vorträge gehalten, so bemerkt der Landammann. daß wenn jemand
von der ehrwürdigen Geistlichkeit oder von den Verwandten des Angeklagten
eine Fürbitte einlegen wolle, er es jetzt thun möge. Dieses Bitten um Gnade
findet fast immer statt; denn hat der Betreffende keine Freunde, so kann er doch
darauf rechnen, daß die Kirche, „die nicht nach Blut dürstet", in dem entschei¬
denden Augenblicke die Richter zur Milde mahnt. Der Inculpat tritt darauf,
ab, und nun wird, bei verschlossenen Thüren, das Blutgericht gehalten. Jeder
Rathsherr hat seine Stimme abzugeben. Die absolute Majorität entscheidet.
Bei Stimmengleichheit vertritt die Stimme des Laudweibels zu Gunsten des
Angeklagten den ealeulus Noel-pas. Die Thüren thun sich hiernach wieder
auf, und die Verkündigung des Urtheils erfolgt. Lautet es auf Tod. so tönt
die große Glocke und folgt das hochnothpeinliche Halsgericht. Der Landam¬
mann zerbricht den Stab und wirft mit den Worten: „Wenn denn keine Gnade
stattfindet, so gnade ihm Gott!" die Stücke unter das Volk, worauf ohne
Verzug zur Hinrichtung geschritten wird.
Vor einigen Jahren noch geschah es, daß eine zum Tode verurtheilte Kindes¬
mörderin von den Appenzeller Franciskanerschwcstern losgebcten wurde, die sich
anheischig gemacht, die Sünderin bei sich aufzunehmen und zu bessern. Noch
eigenthümlicher ist ein anderer derartiger Fall, bei welchem die Besitzer von
Grundstücken in der Nähe des Hochgerichts gegen den Vollzug des Todes-
urtheils protestirten, „weil man ihnen dabei ihre schönen Weiden zertreten
werde", und die Hinrichtung in Gefängnißstrafe umgewandelt wurde. Im
Gegensatz dazu soll ein anderes Mal. als auf lebenslängliche Zuchthausstrafe
erkannt war. die Plätze aber, welche Appenzell-Jnnerrhoden sich im Zuchthaus
von Se. Gallen erkauft hatte, besetzt waren, die Verwandlung in Todesstrafe
stattgefunden haben, was beiläufig nach den Mittheilungen eines Freundes der
Redaction auch in den Cantonen der Urschweiz wiederholt geschehen wäre*).
Die Leser werden nach dem Gesagten vermuthlich erwarten, daß auch die
Civilrechtspflege in Appenzell-Jnnerrhoden sich durch große Einfachheit aus¬
zeichne, und dies ist in der That der Fall. Nirgends hat das germanische
Recht sich einfacher erhalten als hier, wo man nie ein Corpus juris und nie
einen Juristen hatte. Zum Fürsprech kann eine der Parteien nach altdeutscher
Weise einen der Richter wählen, z. B. ein Mitglied des Wochenraths. Bei
der bloßen mündlichen Verhandlung der Streitsachen sind keine Speicher voll
") Namentlich in solchen Fällen, wo es sich um sogenannte „Heimathslose" handelte.
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