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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Ludwigs ödes Deutschen *)j die größere Masse der Menschen deutscher Zunge
auf den Antheil Karls (des Kahlen) die Hauptmasse der (nachmals sg.) Fran¬
zosen zu fallen kam. Mitten dazwischen riß indeß das Gebiet Lothars den
ganzen Stamm der Friesen von den übrigen Stämmen deutscher Sprache, und
alle Provencalen von den übrigen Stämmen, die jetzt die französische Nation
ausmachen, los. Durch dies Gebiet Lothars geschah aber noch ganz Anderes.
Ohne Rücksicht selbst für diejenigen volkstümlichen Begriffe und Gefühle, die
in damaliger Zeit wirklich bekannt und lebendig waren, zerschnitt es auch die
Wohnsitze der einzelnen Stämme. Im Elsaß wurden zahlreiche Alemannen
von den Alemannen Ludwigs des Deutschen, an der Saone und Rhone zahl¬
reiche Burgunder von den Burgundern Karls des Kahlen, namentlich aber
zwischen Rhein und Scheide ein Drittheil der Franken von ihren Stamm¬
genossen zur Rechten und zur Linken getrennt; und dies ganze seltsame Con-
glomerat von Bevölkerungen, dieser breite Länderstreif von der Mündung der
Eins bis zur Mündung der Rhone fand sich unter dem Scepter Lothars mit
den Ländern im Süden der Alpen, mit dem longobardischen Reiche und mit
Rom vereinigt!

In der That aber, durch welchen Beweggrund hätte man sich denn auch
veranlaßt fühlen sollen, derartige Zerreißungen selbst der einzelnen Stämme
zu vermeiden? Etwa dulch den Wunsch, dem in der Theilung begründeten Zu¬
stande bessere Dauer und Haltbarkeit zu sichern? Aber ein so ernstlicher und
bestimmter Wille mit der Theilung ein bleibendes, in sich selbst ruhendes Werk
zu gründen, war ja eigentlich gar nicht vorhanden. Wenn es zu Verdun ledig¬
lich die alte Betrachtung, des Reiches als eines gemeinen Familiengutes ge¬
wesen war, wodurch das Thcilungsprincip über die höheren Tendenzen der
Lotharianer zum Siege gekommen war, so b"übte ja nun auch Sinn und Art
der Theilung auf nichts Anderem als auf der Zahl und Convenienz der vor¬
handenen Erben. Nur so lange hierin keine Veränderungen vor sich gingen,
sollte sie bleiben wie sie war. Vergrößerte oder verringerte sich die Zahl der
Erbberechtigten, so mochten neue, vervielfältigte Theilungen eintreten oder
die drei gegenwärtigen Königreiche zu zweien ja selbst wieder zu Einem einzi¬
gen zusammenrinnen -- Fälle, wie sie vorübergehend wirklich noch vor Ablauf
des Jahrhunderts sich mannigfach zugetragen haben. Und selbst in ihrer gegen¬
wärtigen Vertheilung unter die drei Könige dachte man doch die Länder des
Karolingerreiches keineswegs so abgeschieden gegen einander, daß man sie durch
bestmögliche Scheidewände ein jedes für sich abschließen zu müssen gemeint
hätte. Nicht in solcher Art hatte durch die Theilung der Gedanke des Einen
Christcnreiches verneint werden sollen, daß nach der Meinung der Menschen



") Ein Beiname, der ihm natürlich erst lange nach seinem Tode zu Theil geworden.
Grenzboten III, 1S62. 4 3

Ludwigs ödes Deutschen *)j die größere Masse der Menschen deutscher Zunge
auf den Antheil Karls (des Kahlen) die Hauptmasse der (nachmals sg.) Fran¬
zosen zu fallen kam. Mitten dazwischen riß indeß das Gebiet Lothars den
ganzen Stamm der Friesen von den übrigen Stämmen deutscher Sprache, und
alle Provencalen von den übrigen Stämmen, die jetzt die französische Nation
ausmachen, los. Durch dies Gebiet Lothars geschah aber noch ganz Anderes.
Ohne Rücksicht selbst für diejenigen volkstümlichen Begriffe und Gefühle, die
in damaliger Zeit wirklich bekannt und lebendig waren, zerschnitt es auch die
Wohnsitze der einzelnen Stämme. Im Elsaß wurden zahlreiche Alemannen
von den Alemannen Ludwigs des Deutschen, an der Saone und Rhone zahl¬
reiche Burgunder von den Burgundern Karls des Kahlen, namentlich aber
zwischen Rhein und Scheide ein Drittheil der Franken von ihren Stamm¬
genossen zur Rechten und zur Linken getrennt; und dies ganze seltsame Con-
glomerat von Bevölkerungen, dieser breite Länderstreif von der Mündung der
Eins bis zur Mündung der Rhone fand sich unter dem Scepter Lothars mit
den Ländern im Süden der Alpen, mit dem longobardischen Reiche und mit
Rom vereinigt!

In der That aber, durch welchen Beweggrund hätte man sich denn auch
veranlaßt fühlen sollen, derartige Zerreißungen selbst der einzelnen Stämme
zu vermeiden? Etwa dulch den Wunsch, dem in der Theilung begründeten Zu¬
stande bessere Dauer und Haltbarkeit zu sichern? Aber ein so ernstlicher und
bestimmter Wille mit der Theilung ein bleibendes, in sich selbst ruhendes Werk
zu gründen, war ja eigentlich gar nicht vorhanden. Wenn es zu Verdun ledig¬
lich die alte Betrachtung, des Reiches als eines gemeinen Familiengutes ge¬
wesen war, wodurch das Thcilungsprincip über die höheren Tendenzen der
Lotharianer zum Siege gekommen war, so b«übte ja nun auch Sinn und Art
der Theilung auf nichts Anderem als auf der Zahl und Convenienz der vor¬
handenen Erben. Nur so lange hierin keine Veränderungen vor sich gingen,
sollte sie bleiben wie sie war. Vergrößerte oder verringerte sich die Zahl der
Erbberechtigten, so mochten neue, vervielfältigte Theilungen eintreten oder
die drei gegenwärtigen Königreiche zu zweien ja selbst wieder zu Einem einzi¬
gen zusammenrinnen — Fälle, wie sie vorübergehend wirklich noch vor Ablauf
des Jahrhunderts sich mannigfach zugetragen haben. Und selbst in ihrer gegen¬
wärtigen Vertheilung unter die drei Könige dachte man doch die Länder des
Karolingerreiches keineswegs so abgeschieden gegen einander, daß man sie durch
bestmögliche Scheidewände ein jedes für sich abschließen zu müssen gemeint
hätte. Nicht in solcher Art hatte durch die Theilung der Gedanke des Einen
Christcnreiches verneint werden sollen, daß nach der Meinung der Menschen



") Ein Beiname, der ihm natürlich erst lange nach seinem Tode zu Theil geworden.
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[0345] Ludwigs ödes Deutschen *)j die größere Masse der Menschen deutscher Zunge auf den Antheil Karls (des Kahlen) die Hauptmasse der (nachmals sg.) Fran¬ zosen zu fallen kam. Mitten dazwischen riß indeß das Gebiet Lothars den ganzen Stamm der Friesen von den übrigen Stämmen deutscher Sprache, und alle Provencalen von den übrigen Stämmen, die jetzt die französische Nation ausmachen, los. Durch dies Gebiet Lothars geschah aber noch ganz Anderes. Ohne Rücksicht selbst für diejenigen volkstümlichen Begriffe und Gefühle, die in damaliger Zeit wirklich bekannt und lebendig waren, zerschnitt es auch die Wohnsitze der einzelnen Stämme. Im Elsaß wurden zahlreiche Alemannen von den Alemannen Ludwigs des Deutschen, an der Saone und Rhone zahl¬ reiche Burgunder von den Burgundern Karls des Kahlen, namentlich aber zwischen Rhein und Scheide ein Drittheil der Franken von ihren Stamm¬ genossen zur Rechten und zur Linken getrennt; und dies ganze seltsame Con- glomerat von Bevölkerungen, dieser breite Länderstreif von der Mündung der Eins bis zur Mündung der Rhone fand sich unter dem Scepter Lothars mit den Ländern im Süden der Alpen, mit dem longobardischen Reiche und mit Rom vereinigt! In der That aber, durch welchen Beweggrund hätte man sich denn auch veranlaßt fühlen sollen, derartige Zerreißungen selbst der einzelnen Stämme zu vermeiden? Etwa dulch den Wunsch, dem in der Theilung begründeten Zu¬ stande bessere Dauer und Haltbarkeit zu sichern? Aber ein so ernstlicher und bestimmter Wille mit der Theilung ein bleibendes, in sich selbst ruhendes Werk zu gründen, war ja eigentlich gar nicht vorhanden. Wenn es zu Verdun ledig¬ lich die alte Betrachtung, des Reiches als eines gemeinen Familiengutes ge¬ wesen war, wodurch das Thcilungsprincip über die höheren Tendenzen der Lotharianer zum Siege gekommen war, so b«übte ja nun auch Sinn und Art der Theilung auf nichts Anderem als auf der Zahl und Convenienz der vor¬ handenen Erben. Nur so lange hierin keine Veränderungen vor sich gingen, sollte sie bleiben wie sie war. Vergrößerte oder verringerte sich die Zahl der Erbberechtigten, so mochten neue, vervielfältigte Theilungen eintreten oder die drei gegenwärtigen Königreiche zu zweien ja selbst wieder zu Einem einzi¬ gen zusammenrinnen — Fälle, wie sie vorübergehend wirklich noch vor Ablauf des Jahrhunderts sich mannigfach zugetragen haben. Und selbst in ihrer gegen¬ wärtigen Vertheilung unter die drei Könige dachte man doch die Länder des Karolingerreiches keineswegs so abgeschieden gegen einander, daß man sie durch bestmögliche Scheidewände ein jedes für sich abschließen zu müssen gemeint hätte. Nicht in solcher Art hatte durch die Theilung der Gedanke des Einen Christcnreiches verneint werden sollen, daß nach der Meinung der Menschen ") Ein Beiname, der ihm natürlich erst lange nach seinem Tode zu Theil geworden. Grenzboten III, 1S62. 4 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/345>, abgerufen am 26.08.2024.