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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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Denn ein gründlicher Irrthum würde es auch für diese Zeiten noch sein,
überlmupt an das Vorhandensein eines deutschen -- wie auf der andern Seite
eines französischen -- Nationalbewußtseins irgendwie zu deuten. Wenn hätte sich
denn, seit den Tagen der Völkerwanderung, ein solches auch bilden sollen? In
dieser Wanderung selbst waren die deutschen Stämme, die sich ein Unterkommen
im alten Römerreiche zu verschaffen suchten, ein jeder seinen eigenen Weg ge¬
gangen, auf welchem er allmälig, sein Wesen mit dem der vorgefundenen Römer
mischend, in einer der neu entstehenden, romanischen Volksbildungen verschwom¬
men war. Die in ihrer alten Heimath und bei ihrer alten Sprache gebliebenen
aber waren dann, wie wir sahen, mit jenen ausgewanderten hauptsächlich durch
das Frankenreich in Verbindung gebracht worden. Das war aber geschehn
noch während jene ausgewanderten sich auf dem Umbildungsprocesse zu Romanen
befunden hatten; und einzeln waren die rein deutschen Stämme dem Franken¬
reiche unterworfen worden, der eine Dienste leistend bei der Bezwingung des
anderen. Jeder Anlaß, daß ein Gesammtgegensatz zwischen Deutsch auf der
einen, Romanisch aus der anderen Seite in den Sinn der Menschen irgend¬
wie eingetreten wäre, hatte demnach gefehlt. Ueber dem Gefühle, welches den
Einzelnen an seine nächsten Stammesgenossen knüpfte, stand nur dasjenige für
das große Christenreich in seiner Gesammtheit. Ein Bewußtsein, welches,
minder eng als das erstere und-minder weit als das letztere, eine Anzahl von
Stämmen als eine besondere Gesammtheit aus der gewaltigen Allgemeinheit
herausgehoben hätte, war nicht gegeben.

Der deutlichste Beweis, daß dem so war, liegt vielleicht in dem Umstände,
daß ein eigentlicher Name, sür die Deutschen als solche -- ebenso wie ein
Gesammtname, welcher dem späteren "Franzos" entsprochen hätte, noch gar
nicht existirte. Nur allmälig und nicht ohne Mühe arbeitete sich erst damals
unser "Deutsch" zu der Bedeutung, die ihm seitdem geblieben ist, empor. Und
interessant genug ist es zu sehn, wie dies geschah. Die verwandte Sprache
war es, und war, zumal nach Beseitigung der alten Götterlehre, auch ziemlich
das Einzige, worin Bayern und Sachsen, Alemannen und Ostfranken, Thüringer
und Friesen sich einer Uebereinstimmung unter sich selbst und zugleich eines
ihnen gemeinsamen Unterschiedes von Slaven wie Romanen bewußt wurden.
Diese Sprache nun durch irgend einen Namen als eine bestimmte, einzelne
Sprache einer anderen gegenüber zu bezeichnen, war auf deutschem Boden die
Hauptveranlassung geboten durch das grundverschiedene unter der Geistlichkeit ge¬
sprochene Latein. Als das Natürlichste ergab sich da, die Muttersprache sei
einfach als die Sprache der Laien, des gemeinen Volks, im Gegensatze zu der
Sprache des Klerus aufzuführen; redete oder schrieb man selbst lateinisch, so
waren liiigug, vulgaris, lingua xopularis u. tgi. bis in die Karolingerzeit
die gewöhnlichen Ausdrücke, mit denen man sich half. Nichts Anderes als dies


Denn ein gründlicher Irrthum würde es auch für diese Zeiten noch sein,
überlmupt an das Vorhandensein eines deutschen — wie auf der andern Seite
eines französischen — Nationalbewußtseins irgendwie zu deuten. Wenn hätte sich
denn, seit den Tagen der Völkerwanderung, ein solches auch bilden sollen? In
dieser Wanderung selbst waren die deutschen Stämme, die sich ein Unterkommen
im alten Römerreiche zu verschaffen suchten, ein jeder seinen eigenen Weg ge¬
gangen, auf welchem er allmälig, sein Wesen mit dem der vorgefundenen Römer
mischend, in einer der neu entstehenden, romanischen Volksbildungen verschwom¬
men war. Die in ihrer alten Heimath und bei ihrer alten Sprache gebliebenen
aber waren dann, wie wir sahen, mit jenen ausgewanderten hauptsächlich durch
das Frankenreich in Verbindung gebracht worden. Das war aber geschehn
noch während jene ausgewanderten sich auf dem Umbildungsprocesse zu Romanen
befunden hatten; und einzeln waren die rein deutschen Stämme dem Franken¬
reiche unterworfen worden, der eine Dienste leistend bei der Bezwingung des
anderen. Jeder Anlaß, daß ein Gesammtgegensatz zwischen Deutsch auf der
einen, Romanisch aus der anderen Seite in den Sinn der Menschen irgend¬
wie eingetreten wäre, hatte demnach gefehlt. Ueber dem Gefühle, welches den
Einzelnen an seine nächsten Stammesgenossen knüpfte, stand nur dasjenige für
das große Christenreich in seiner Gesammtheit. Ein Bewußtsein, welches,
minder eng als das erstere und-minder weit als das letztere, eine Anzahl von
Stämmen als eine besondere Gesammtheit aus der gewaltigen Allgemeinheit
herausgehoben hätte, war nicht gegeben.

Der deutlichste Beweis, daß dem so war, liegt vielleicht in dem Umstände,
daß ein eigentlicher Name, sür die Deutschen als solche — ebenso wie ein
Gesammtname, welcher dem späteren „Franzos" entsprochen hätte, noch gar
nicht existirte. Nur allmälig und nicht ohne Mühe arbeitete sich erst damals
unser „Deutsch" zu der Bedeutung, die ihm seitdem geblieben ist, empor. Und
interessant genug ist es zu sehn, wie dies geschah. Die verwandte Sprache
war es, und war, zumal nach Beseitigung der alten Götterlehre, auch ziemlich
das Einzige, worin Bayern und Sachsen, Alemannen und Ostfranken, Thüringer
und Friesen sich einer Uebereinstimmung unter sich selbst und zugleich eines
ihnen gemeinsamen Unterschiedes von Slaven wie Romanen bewußt wurden.
Diese Sprache nun durch irgend einen Namen als eine bestimmte, einzelne
Sprache einer anderen gegenüber zu bezeichnen, war auf deutschem Boden die
Hauptveranlassung geboten durch das grundverschiedene unter der Geistlichkeit ge¬
sprochene Latein. Als das Natürlichste ergab sich da, die Muttersprache sei
einfach als die Sprache der Laien, des gemeinen Volks, im Gegensatze zu der
Sprache des Klerus aufzuführen; redete oder schrieb man selbst lateinisch, so
waren liiigug, vulgaris, lingua xopularis u. tgi. bis in die Karolingerzeit
die gewöhnlichen Ausdrücke, mit denen man sich half. Nichts Anderes als dies


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[0343] Denn ein gründlicher Irrthum würde es auch für diese Zeiten noch sein, überlmupt an das Vorhandensein eines deutschen — wie auf der andern Seite eines französischen — Nationalbewußtseins irgendwie zu deuten. Wenn hätte sich denn, seit den Tagen der Völkerwanderung, ein solches auch bilden sollen? In dieser Wanderung selbst waren die deutschen Stämme, die sich ein Unterkommen im alten Römerreiche zu verschaffen suchten, ein jeder seinen eigenen Weg ge¬ gangen, auf welchem er allmälig, sein Wesen mit dem der vorgefundenen Römer mischend, in einer der neu entstehenden, romanischen Volksbildungen verschwom¬ men war. Die in ihrer alten Heimath und bei ihrer alten Sprache gebliebenen aber waren dann, wie wir sahen, mit jenen ausgewanderten hauptsächlich durch das Frankenreich in Verbindung gebracht worden. Das war aber geschehn noch während jene ausgewanderten sich auf dem Umbildungsprocesse zu Romanen befunden hatten; und einzeln waren die rein deutschen Stämme dem Franken¬ reiche unterworfen worden, der eine Dienste leistend bei der Bezwingung des anderen. Jeder Anlaß, daß ein Gesammtgegensatz zwischen Deutsch auf der einen, Romanisch aus der anderen Seite in den Sinn der Menschen irgend¬ wie eingetreten wäre, hatte demnach gefehlt. Ueber dem Gefühle, welches den Einzelnen an seine nächsten Stammesgenossen knüpfte, stand nur dasjenige für das große Christenreich in seiner Gesammtheit. Ein Bewußtsein, welches, minder eng als das erstere und-minder weit als das letztere, eine Anzahl von Stämmen als eine besondere Gesammtheit aus der gewaltigen Allgemeinheit herausgehoben hätte, war nicht gegeben. Der deutlichste Beweis, daß dem so war, liegt vielleicht in dem Umstände, daß ein eigentlicher Name, sür die Deutschen als solche — ebenso wie ein Gesammtname, welcher dem späteren „Franzos" entsprochen hätte, noch gar nicht existirte. Nur allmälig und nicht ohne Mühe arbeitete sich erst damals unser „Deutsch" zu der Bedeutung, die ihm seitdem geblieben ist, empor. Und interessant genug ist es zu sehn, wie dies geschah. Die verwandte Sprache war es, und war, zumal nach Beseitigung der alten Götterlehre, auch ziemlich das Einzige, worin Bayern und Sachsen, Alemannen und Ostfranken, Thüringer und Friesen sich einer Uebereinstimmung unter sich selbst und zugleich eines ihnen gemeinsamen Unterschiedes von Slaven wie Romanen bewußt wurden. Diese Sprache nun durch irgend einen Namen als eine bestimmte, einzelne Sprache einer anderen gegenüber zu bezeichnen, war auf deutschem Boden die Hauptveranlassung geboten durch das grundverschiedene unter der Geistlichkeit ge¬ sprochene Latein. Als das Natürlichste ergab sich da, die Muttersprache sei einfach als die Sprache der Laien, des gemeinen Volks, im Gegensatze zu der Sprache des Klerus aufzuführen; redete oder schrieb man selbst lateinisch, so waren liiigug, vulgaris, lingua xopularis u. tgi. bis in die Karolingerzeit die gewöhnlichen Ausdrücke, mit denen man sich half. Nichts Anderes als dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/343>, abgerufen am 26.08.2024.