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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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regungen hingegangen. Die landwirtschaftliche Versammlung in Casale
(30. Aug.), der Jahrestag der Entsetzung Turins im Jahr 1706, der in Ge¬
nua festlich gefeiert wurde (3. Sept.), der Gelehrtencongreß in Venedig
(13. Sept.) hatten nach einander den öffentlichen Geist in Athem gehalten.
Die Demonstration in Turin am 1. Oct. war nicht die einzige dieser Art
gewesen, im ganzen Land hatte es sich zu regen begonnen. Balbo führte in
einer Denkschrift an den König aus, daß nur durch ausgedehnte und schleunige
Reformen die öffentliche Ruhe aufrecht erhalten werden könne, und Lord Minto,
der Anfangs October in außerordentlicher Mission in Turin angekommen war.
gab dringende Rathschläge in dem gleichen Sinne. Es war die höchste Zeit,
als am 30. October die Amtszeitung ein königliches Decret brachte, welches
Erweiterung des Staatsraths durch Beiziehung von Provincialmitgliedern, Er¬
richtung eines CassationShofs, Abschaffung einiger Ausnahmsgerichte, Verbes¬
serungen in der Handhabung der Polizei, Reorganisation der Stadtbehörden,
Erweiterung ihrer Befugnisse und Wahl derselben durch die Bürger zusagte.
Gleich darauf kamen auch die Präliminarien für die Zolleinigung mit Toscana
und dem Papst zum Abschluß.

Diese Reformen waren nicht unbedeutend, auch gab sich die Dankbarkeit
des Volks in maßlosen Freudenbezeugungen kund. Auf die Straßendemon¬
strationen folgten Bantete, die nach einander von allen Classen der Gesellschaft,
von Aerzten, Advocaten. Professoren, Kaufleuten, Arbeitern veranstaltet wur¬
den. Die patriotischen Reden wetteiferten mit der Presse in lautester Anerken¬
nung des Monarchen. Merkwürdigerweise aber erschien die neue Freiheit noch
so ungewohnt, daß man in allen politischen Aeußerungen zugleich die größte
Schüchternheit beobachtete. Noch getraute man sich nicht von italienischer Po¬
litik oder Unabhängigkeit zu reden. Ja als bei einem Banker der Juristen
Brvfferio einen Toast auf Alfieri als den Dichter der Freiheit ausbringen
wollte, antwortete ihm betroffenes Stillschweigen, und wie davon die Rede war,
dem König zur Anerkennung eine Medaille zu überreichen und Brofferio hiefür
die Inschrift vorschlug: "Karl Albert -- für das begonnene Werk der Unab¬
hängigkeit -- für die gehoffte Freiheit -- der Turiner Gerichtshof" erregte die¬
ser Vorschlag ein solches Entsetzen, daß auch von der Medaille nicht weiter die
Rede war.

Auch als dem König am 3. November bei seiner Abreise nach Genua,
wo er sich seiner Gewohnheit gemäß einen Monat aufhalten wollte, ein
glänzendes Fest unter Betheiligung aller Classen der Bevölkerung veranstaltet
wurde, trug dieses einen wesentlich piemontesischen, noch nicht italienischen Cha¬
rakter. Man sah nur die blaue Kokarde und das weiße Kreuz im rothen Feld,
dies nannte man damals das "Nationalbanner", und als doch einige wenige
Banner nationale Inschriften trugen, -- z. B. eine: 1'ItM^ ü>,i'ä -- galt


regungen hingegangen. Die landwirtschaftliche Versammlung in Casale
(30. Aug.), der Jahrestag der Entsetzung Turins im Jahr 1706, der in Ge¬
nua festlich gefeiert wurde (3. Sept.), der Gelehrtencongreß in Venedig
(13. Sept.) hatten nach einander den öffentlichen Geist in Athem gehalten.
Die Demonstration in Turin am 1. Oct. war nicht die einzige dieser Art
gewesen, im ganzen Land hatte es sich zu regen begonnen. Balbo führte in
einer Denkschrift an den König aus, daß nur durch ausgedehnte und schleunige
Reformen die öffentliche Ruhe aufrecht erhalten werden könne, und Lord Minto,
der Anfangs October in außerordentlicher Mission in Turin angekommen war.
gab dringende Rathschläge in dem gleichen Sinne. Es war die höchste Zeit,
als am 30. October die Amtszeitung ein königliches Decret brachte, welches
Erweiterung des Staatsraths durch Beiziehung von Provincialmitgliedern, Er¬
richtung eines CassationShofs, Abschaffung einiger Ausnahmsgerichte, Verbes¬
serungen in der Handhabung der Polizei, Reorganisation der Stadtbehörden,
Erweiterung ihrer Befugnisse und Wahl derselben durch die Bürger zusagte.
Gleich darauf kamen auch die Präliminarien für die Zolleinigung mit Toscana
und dem Papst zum Abschluß.

Diese Reformen waren nicht unbedeutend, auch gab sich die Dankbarkeit
des Volks in maßlosen Freudenbezeugungen kund. Auf die Straßendemon¬
strationen folgten Bantete, die nach einander von allen Classen der Gesellschaft,
von Aerzten, Advocaten. Professoren, Kaufleuten, Arbeitern veranstaltet wur¬
den. Die patriotischen Reden wetteiferten mit der Presse in lautester Anerken¬
nung des Monarchen. Merkwürdigerweise aber erschien die neue Freiheit noch
so ungewohnt, daß man in allen politischen Aeußerungen zugleich die größte
Schüchternheit beobachtete. Noch getraute man sich nicht von italienischer Po¬
litik oder Unabhängigkeit zu reden. Ja als bei einem Banker der Juristen
Brvfferio einen Toast auf Alfieri als den Dichter der Freiheit ausbringen
wollte, antwortete ihm betroffenes Stillschweigen, und wie davon die Rede war,
dem König zur Anerkennung eine Medaille zu überreichen und Brofferio hiefür
die Inschrift vorschlug: „Karl Albert — für das begonnene Werk der Unab¬
hängigkeit — für die gehoffte Freiheit — der Turiner Gerichtshof" erregte die¬
ser Vorschlag ein solches Entsetzen, daß auch von der Medaille nicht weiter die
Rede war.

Auch als dem König am 3. November bei seiner Abreise nach Genua,
wo er sich seiner Gewohnheit gemäß einen Monat aufhalten wollte, ein
glänzendes Fest unter Betheiligung aller Classen der Bevölkerung veranstaltet
wurde, trug dieses einen wesentlich piemontesischen, noch nicht italienischen Cha¬
rakter. Man sah nur die blaue Kokarde und das weiße Kreuz im rothen Feld,
dies nannte man damals das „Nationalbanner", und als doch einige wenige
Banner nationale Inschriften trugen, — z. B. eine: 1'ItM^ ü>,i'ä — galt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/310>, abgerufen am 06.02.2025.