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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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den Schluß. Ich hatte die Ehre, neben meinem Papa zu sitzen. Vier Exem¬
plare lagen auf dem Tisch, wovon eins Goethe, ein zweites mein Vater und
die beiden andern die Wolff und Oels in Besitz nahmen. Mein Vater flüsterte
mir zu: "Nimm dich zusammen." Du liever Gott, was brauchte ich mich denn
da zusammenzunehmen; ich hatte ja nur ein paar Worte zu sagen, und die wußte
ich bereits auswendig!

Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit
einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn, und
Oels sing an zu lesen. Auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter,
und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar. Ein Gleiches that dann die Wolff.
So gingen die Bücher von Hand zu Hand. Nun war mir klar, was der Herr
Papa mit dem "Nimm dich zusammen" gemeint hatte. Nun sah ich erst, welch
kitzliche Sache es ist, Calderonsche Verse correct vom Blatt zu lesen und dabei
einigen Ausdruck hineinzulegen. Zum Glück hatte ich das Stück auf meines
Vaters Pult vorgefunden und für mich gelesen. Der Rhythmus und das Tempo
wurden mir durch Oels und die Wolff trefflich angegeben, und so sah ich denn
mit einiger Ruhe dem Zeitpunkt entgegen, wo das Klopsen des Schlüssels mich
aufrufen würde.

Solche Leseproben hatten das Gute, daß sie die Aufmerksamkeit aller Mit¬
wirkenden verlangten und man eine genaue Kenntniß des Ganzen erhielt. Bon
derartigen Vorbereitungen ist heutigen Tags freilich nicht mehr die Rede, und
die jetzige Generation der dramatischen Darsteller würde Zumuthungen dieser
Art als Beleidigungen betrachten. Bei der zweiten Leseprobe wurden die Rollen
collationirt und bei der dritten im Charakter gelesen.

Die Schauspieler erhielten Zeit genug zum Memoriren ihrer Rollen, sie
mußten derselben aber auch schon bei der ersten Theaterprobe mächtig sein, wenn
sie Goethe nicht sehr heftig sehen wollten. Ein Beispiel war-folgendes. Bei der
ersten Probe zur "Zenobia" trat Unzelmann, sonst ein sehr fleißiger Schau¬
spieler und ein Liebling Goethe's, mit der Rolle in der Hand auf die Scene
und las seine Aufgabe ab. Sogleich ertönte Goethe's mächtige Stimme aus
seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterre befand: "Ich bin es nicht
gewöhnt, daß man seine Aufgabe abliest." Unzelmann entschuldigte sich mit
dem Bemerken, daß seine Frau seit mehren Tagen krank darniederliege und er
deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. "El was!" rief Goethe, "der
Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet!" Unzelmann
trat bis an das Proscenium vor und sagte: "Ew. Excellenz haben vollkommen
Recht! Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber
ebenso gut wie der Staatsmann und Dichter der Nachtruhe bedarf, bedarf ihrer
auch der arme Schauspieler, der öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz
blutet. Ew. Excellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht Nachkomme; aber in


den Schluß. Ich hatte die Ehre, neben meinem Papa zu sitzen. Vier Exem¬
plare lagen auf dem Tisch, wovon eins Goethe, ein zweites mein Vater und
die beiden andern die Wolff und Oels in Besitz nahmen. Mein Vater flüsterte
mir zu: „Nimm dich zusammen." Du liever Gott, was brauchte ich mich denn
da zusammenzunehmen; ich hatte ja nur ein paar Worte zu sagen, und die wußte
ich bereits auswendig!

Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit
einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn, und
Oels sing an zu lesen. Auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter,
und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar. Ein Gleiches that dann die Wolff.
So gingen die Bücher von Hand zu Hand. Nun war mir klar, was der Herr
Papa mit dem „Nimm dich zusammen" gemeint hatte. Nun sah ich erst, welch
kitzliche Sache es ist, Calderonsche Verse correct vom Blatt zu lesen und dabei
einigen Ausdruck hineinzulegen. Zum Glück hatte ich das Stück auf meines
Vaters Pult vorgefunden und für mich gelesen. Der Rhythmus und das Tempo
wurden mir durch Oels und die Wolff trefflich angegeben, und so sah ich denn
mit einiger Ruhe dem Zeitpunkt entgegen, wo das Klopsen des Schlüssels mich
aufrufen würde.

Solche Leseproben hatten das Gute, daß sie die Aufmerksamkeit aller Mit¬
wirkenden verlangten und man eine genaue Kenntniß des Ganzen erhielt. Bon
derartigen Vorbereitungen ist heutigen Tags freilich nicht mehr die Rede, und
die jetzige Generation der dramatischen Darsteller würde Zumuthungen dieser
Art als Beleidigungen betrachten. Bei der zweiten Leseprobe wurden die Rollen
collationirt und bei der dritten im Charakter gelesen.

Die Schauspieler erhielten Zeit genug zum Memoriren ihrer Rollen, sie
mußten derselben aber auch schon bei der ersten Theaterprobe mächtig sein, wenn
sie Goethe nicht sehr heftig sehen wollten. Ein Beispiel war-folgendes. Bei der
ersten Probe zur „Zenobia" trat Unzelmann, sonst ein sehr fleißiger Schau¬
spieler und ein Liebling Goethe's, mit der Rolle in der Hand auf die Scene
und las seine Aufgabe ab. Sogleich ertönte Goethe's mächtige Stimme aus
seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterre befand: „Ich bin es nicht
gewöhnt, daß man seine Aufgabe abliest." Unzelmann entschuldigte sich mit
dem Bemerken, daß seine Frau seit mehren Tagen krank darniederliege und er
deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. „El was!" rief Goethe, „der
Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet!" Unzelmann
trat bis an das Proscenium vor und sagte: „Ew. Excellenz haben vollkommen
Recht! Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber
ebenso gut wie der Staatsmann und Dichter der Nachtruhe bedarf, bedarf ihrer
auch der arme Schauspieler, der öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz
blutet. Ew. Excellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht Nachkomme; aber in


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[0154] den Schluß. Ich hatte die Ehre, neben meinem Papa zu sitzen. Vier Exem¬ plare lagen auf dem Tisch, wovon eins Goethe, ein zweites mein Vater und die beiden andern die Wolff und Oels in Besitz nahmen. Mein Vater flüsterte mir zu: „Nimm dich zusammen." Du liever Gott, was brauchte ich mich denn da zusammenzunehmen; ich hatte ja nur ein paar Worte zu sagen, und die wußte ich bereits auswendig! Goethe las nun die Namen der handelnden Personen, dann gab er mit einem Schlüssel, womit er auf den Tisch klopfte, das Zeichen zum Beginn, und Oels sing an zu lesen. Auf ein abermaliges Klopfen las Madame Wolff weiter, und Oels gab sein Buch an seinen Nachbar. Ein Gleiches that dann die Wolff. So gingen die Bücher von Hand zu Hand. Nun war mir klar, was der Herr Papa mit dem „Nimm dich zusammen" gemeint hatte. Nun sah ich erst, welch kitzliche Sache es ist, Calderonsche Verse correct vom Blatt zu lesen und dabei einigen Ausdruck hineinzulegen. Zum Glück hatte ich das Stück auf meines Vaters Pult vorgefunden und für mich gelesen. Der Rhythmus und das Tempo wurden mir durch Oels und die Wolff trefflich angegeben, und so sah ich denn mit einiger Ruhe dem Zeitpunkt entgegen, wo das Klopsen des Schlüssels mich aufrufen würde. Solche Leseproben hatten das Gute, daß sie die Aufmerksamkeit aller Mit¬ wirkenden verlangten und man eine genaue Kenntniß des Ganzen erhielt. Bon derartigen Vorbereitungen ist heutigen Tags freilich nicht mehr die Rede, und die jetzige Generation der dramatischen Darsteller würde Zumuthungen dieser Art als Beleidigungen betrachten. Bei der zweiten Leseprobe wurden die Rollen collationirt und bei der dritten im Charakter gelesen. Die Schauspieler erhielten Zeit genug zum Memoriren ihrer Rollen, sie mußten derselben aber auch schon bei der ersten Theaterprobe mächtig sein, wenn sie Goethe nicht sehr heftig sehen wollten. Ein Beispiel war-folgendes. Bei der ersten Probe zur „Zenobia" trat Unzelmann, sonst ein sehr fleißiger Schau¬ spieler und ein Liebling Goethe's, mit der Rolle in der Hand auf die Scene und las seine Aufgabe ab. Sogleich ertönte Goethe's mächtige Stimme aus seiner Loge, die sich im Hintergrund des Parterre befand: „Ich bin es nicht gewöhnt, daß man seine Aufgabe abliest." Unzelmann entschuldigte sich mit dem Bemerken, daß seine Frau seit mehren Tagen krank darniederliege und er deshalb nicht zum Lernen hätte kommen können. „El was!" rief Goethe, „der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet!" Unzelmann trat bis an das Proscenium vor und sagte: „Ew. Excellenz haben vollkommen Recht! Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber ebenso gut wie der Staatsmann und Dichter der Nachtruhe bedarf, bedarf ihrer auch der arme Schauspieler, der öfters Possen reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Ew. Excellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht Nachkomme; aber in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/154>, abgerufen am 22.07.2024.