Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.Gleichgiltigkeit gegen die menschliche Form, welche nicht einmal schöne Individuen, 12"
Gleichgiltigkeit gegen die menschliche Form, welche nicht einmal schöne Individuen, 12"
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Gleichgiltigkeit gegen die menschliche Form, welche nicht einmal schöne Individuen,
sondern nur schöne Exemplare in der Seiltänzcrbude und unter dem Balletcorps
sucht: woher soll da eine eigenthümliche plastische Anschauung kommen, die
ein auch in der Leidenschaft noch klar und einfach bewegtes Seelenleben ganz
und bruchloS in den reinen schwungvollen Fluß der Form zu bringen hat!
Auch der Bildner ist auf die Reproduction angewiesen, und er kann sich glück¬
lich preisen, wenn die unschöne Decke unserer Culturformen nicht auch seinen
Sinn für die wahre plastische Form verschüttet hat. So lange es sich um die
Darstellung ganz einfacher idealer Motive handelt, kommt Alles auf das richtige
Verständniß der Form an. Soll das innere Leben im Guß der Linie und in
der feinen Wellenbewegung des Körpers zur schönen Bildung ganz herausge¬
wachsen erscheinen, so ist die Anmuth der Stellung und die anatomische Rich¬
tigkeit das Geringste. Die Hauptsache ist, daß der Künstler die Form in
breiten großen Flächen sehe, die in unmerklichen Uebergängen und harmonischem
Fluß sich verbinden, nach allen Seiten inMaren Verhältnissen sich aneinander
fügen, in denen der materielle Bau des Körpers wie verschwindet, und doch
wieder leise fühlbar sich ausprägt, in denen endlich dieser als der ganz ideale
und doch durch und durch lebendige Träger der in ihn ergossenen Seele er¬
scheint. Nur in der so dargestellten Form bleibt nichts von der Schwere und
Dürftigkeit der stofflichen Erscheinung zurück, und nur in ihr spricht sich die
Bewegung mit dem unendlichen Zauber der vom Geiste ganz durchflutheten
Gestalt aus. Es ist mit einem Worte die Anschauungsweise des größten
Künstlers der Form, den die Welt je hervorgebracht, es ist die des Phidias,
nach der die moderne Plastik sich zu bilden hat. wenn sie für ihre Werke ein
tieferes Interesse erregen, wenn sie für die Fremdheit der Motive, die im Gan¬
zen doch jenseits des heutigen Bewußtseins liegen, durch die Darstellung ent¬
schädigen will. In unserm Jahrhundert hat zuerst Thorwaldsen diese Art die
Form zu sehen wieder entdeckt, indem ihm das Verständniß für Phidias auf¬
ging. Sein Jason war die erste Frucht des neu gewonnenen plastischen Sinnes.
Und auf diesem Wege hat die ideale Sculptur fortzugehen, wenn ihr daran
liegt, c>n die Stelle der todten Nachahmung eine seelenvolle Nachbildung zu
setzen. Der Bildner hat durch die plastische Vollendung der Form künstlerisch
die Fülle des Lebens zu erreichen, welche der Wirklichkeit zu entnehmen ihm
versagt ist. Allein nichts der Art war auf der cölner Ausstellung. Wann endlich
wird die heutige Plastik zur Einsicht kommen, daß die Erfindung einer halb¬
wegs gefälligen Stellung, die schwülstige oder gedrechselte Rundung der Glie¬
der, die Ausbildung des Muskelsystems, mit der ein Turner sich brüsten könnte,
noch lange den Bildner nicht machen? Unser Jahrhundert hat es wie keines
verstanden, in die Vergangenheit einzudringen, und mit feinem Sinn auch der
entlegensten Zeit ihr Geheimniß abzulauschen; warum löst es an der Hand der
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