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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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bedarf zu ihrem Gedeihen der drei Arten von Führern. Doctrinäre und Wort¬
führer finden sich leichter, bedeutende Staatsmänner sind seltener. -- Der libe¬
ralen Partei haben Tadelsucht, Geiz und Unentschlossenheit den Sieg ent¬
rissen; sie hat sich zu allen öffentlichen Angelegenheiten, auch gegen die eigene
Partei, überwiegend kritisch Verhalten. Bis 1848 war sie ein Menschenalter
in der Opposition gewesen, und ihre Führer, welche zur Regierung kamen,
wurden sofort beim Volke verdächtigt. Da sie ihre Fehler kaum ablegen
wird, so kann sie wohl eine starke Opposition bilden, aber schwerlich die
Regierung führen (Neue Aera in Preußen). Sie bleibt bei der Einführung
des constitutionellen Systems stehen, statt die Durchführung des parlamentari¬
schen Systems zu verlangen. Bei der demokratischen Partei bildet den inner¬
sten Kern die Leidenschaft zur negativen Freiheit; sie ist demgemäß auch antikirch-
lich und irreligiös. Roheit und unerträgliche Pöbelhaftigkeit gelten vielfach als
gleichbedeutend mit demokratischer Richtung. Viele wenden sich deshalb von
dieser Richtung ab, die Abneigung der Gebildeten hindert die Durchführung ihrer
Plane, sie wird daher auch in Europa nicht siegen. Der Unverstand der Reac¬
tion aber kann die liberale und die demokratische Partei vereinigen (Neuere
Wahlerlasse). Die katholische Partei gehört der neueren Zeit an. Sie war
in den vereinigten Niederlanden (Holland-Belgien) und ist in Irland mit natio¬
nalen Elementen gemischt; rein kirchlich ist sie zum erstenmale in dem modernen
Preußen aufgetreten und bildet in der Ständeversammlung eine unbehagliche,
bedenkliche, irrationale Größe. Eine protestantische Partei in katholischen
Staaten kann es nicht geben, weil sie kein auswärtiges Kirchenoberhaupt hat.
Die Protestanten werden dort in der Regel liberal sein. Einen bedeutenden
Factor bei einer politischen Bewegung in Deutschland bilden die Juden. In
Masse sind sie der Bewegung innerlich fremd, schließen sich aber um der Sicher¬
heit willen an. Ihre Literaten stehen auf der extremsten Seite (doch nicht alle),
sie sind boshaft, frech, weil sie sich noch als Unterdrückte, d. l>. ausgeschlossen,
von den Aemtern, fühlen. Das revolutionäre Element recrutirt sich stark aus den
Schulmeistern, welche' die schlechtesten Zeitungen versorgen (R. v. Mohl kennt
dies von Heidelberg her). Durch geringere Bildung (Regulative) und bessere
Stellung wird nicht geholfen; eher durch gesündere Bildung in den Seminaren,
durch landwirthschaftliche Kenntnisse und Grundbesitz. -- Daß R. v. Mohl
der Frauen nicht gedenkt, daß er ihnen nicht ebenfalls die Wahrheit sagen mag
in diesem Umstände erkennen wir das einzige Zeichen zarter Rücksichtsnahme,
welches uns in dem Buche vorgekommen ist.

Der Abschnitt "Von Ständeversammlungen" behandelt die Fragen von
dem allgemeinen Stimmrecht. Wählbarkeit der Beamten, Zusammensetzung der
Kammern. Zweikammersystem und alle die Gegenstände, welche Bentham's par¬
lamentarische Taktik einer frühern Zeit, Niemand aber der Gegenwart so mei-


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bedarf zu ihrem Gedeihen der drei Arten von Führern. Doctrinäre und Wort¬
führer finden sich leichter, bedeutende Staatsmänner sind seltener. — Der libe¬
ralen Partei haben Tadelsucht, Geiz und Unentschlossenheit den Sieg ent¬
rissen; sie hat sich zu allen öffentlichen Angelegenheiten, auch gegen die eigene
Partei, überwiegend kritisch Verhalten. Bis 1848 war sie ein Menschenalter
in der Opposition gewesen, und ihre Führer, welche zur Regierung kamen,
wurden sofort beim Volke verdächtigt. Da sie ihre Fehler kaum ablegen
wird, so kann sie wohl eine starke Opposition bilden, aber schwerlich die
Regierung führen (Neue Aera in Preußen). Sie bleibt bei der Einführung
des constitutionellen Systems stehen, statt die Durchführung des parlamentari¬
schen Systems zu verlangen. Bei der demokratischen Partei bildet den inner¬
sten Kern die Leidenschaft zur negativen Freiheit; sie ist demgemäß auch antikirch-
lich und irreligiös. Roheit und unerträgliche Pöbelhaftigkeit gelten vielfach als
gleichbedeutend mit demokratischer Richtung. Viele wenden sich deshalb von
dieser Richtung ab, die Abneigung der Gebildeten hindert die Durchführung ihrer
Plane, sie wird daher auch in Europa nicht siegen. Der Unverstand der Reac¬
tion aber kann die liberale und die demokratische Partei vereinigen (Neuere
Wahlerlasse). Die katholische Partei gehört der neueren Zeit an. Sie war
in den vereinigten Niederlanden (Holland-Belgien) und ist in Irland mit natio¬
nalen Elementen gemischt; rein kirchlich ist sie zum erstenmale in dem modernen
Preußen aufgetreten und bildet in der Ständeversammlung eine unbehagliche,
bedenkliche, irrationale Größe. Eine protestantische Partei in katholischen
Staaten kann es nicht geben, weil sie kein auswärtiges Kirchenoberhaupt hat.
Die Protestanten werden dort in der Regel liberal sein. Einen bedeutenden
Factor bei einer politischen Bewegung in Deutschland bilden die Juden. In
Masse sind sie der Bewegung innerlich fremd, schließen sich aber um der Sicher¬
heit willen an. Ihre Literaten stehen auf der extremsten Seite (doch nicht alle),
sie sind boshaft, frech, weil sie sich noch als Unterdrückte, d. l>. ausgeschlossen,
von den Aemtern, fühlen. Das revolutionäre Element recrutirt sich stark aus den
Schulmeistern, welche' die schlechtesten Zeitungen versorgen (R. v. Mohl kennt
dies von Heidelberg her). Durch geringere Bildung (Regulative) und bessere
Stellung wird nicht geholfen; eher durch gesündere Bildung in den Seminaren,
durch landwirthschaftliche Kenntnisse und Grundbesitz. — Daß R. v. Mohl
der Frauen nicht gedenkt, daß er ihnen nicht ebenfalls die Wahrheit sagen mag
in diesem Umstände erkennen wir das einzige Zeichen zarter Rücksichtsnahme,
welches uns in dem Buche vorgekommen ist.

Der Abschnitt „Von Ständeversammlungen" behandelt die Fragen von
dem allgemeinen Stimmrecht. Wählbarkeit der Beamten, Zusammensetzung der
Kammern. Zweikammersystem und alle die Gegenstände, welche Bentham's par¬
lamentarische Taktik einer frühern Zeit, Niemand aber der Gegenwart so mei-


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[0411] bedarf zu ihrem Gedeihen der drei Arten von Führern. Doctrinäre und Wort¬ führer finden sich leichter, bedeutende Staatsmänner sind seltener. — Der libe¬ ralen Partei haben Tadelsucht, Geiz und Unentschlossenheit den Sieg ent¬ rissen; sie hat sich zu allen öffentlichen Angelegenheiten, auch gegen die eigene Partei, überwiegend kritisch Verhalten. Bis 1848 war sie ein Menschenalter in der Opposition gewesen, und ihre Führer, welche zur Regierung kamen, wurden sofort beim Volke verdächtigt. Da sie ihre Fehler kaum ablegen wird, so kann sie wohl eine starke Opposition bilden, aber schwerlich die Regierung führen (Neue Aera in Preußen). Sie bleibt bei der Einführung des constitutionellen Systems stehen, statt die Durchführung des parlamentari¬ schen Systems zu verlangen. Bei der demokratischen Partei bildet den inner¬ sten Kern die Leidenschaft zur negativen Freiheit; sie ist demgemäß auch antikirch- lich und irreligiös. Roheit und unerträgliche Pöbelhaftigkeit gelten vielfach als gleichbedeutend mit demokratischer Richtung. Viele wenden sich deshalb von dieser Richtung ab, die Abneigung der Gebildeten hindert die Durchführung ihrer Plane, sie wird daher auch in Europa nicht siegen. Der Unverstand der Reac¬ tion aber kann die liberale und die demokratische Partei vereinigen (Neuere Wahlerlasse). Die katholische Partei gehört der neueren Zeit an. Sie war in den vereinigten Niederlanden (Holland-Belgien) und ist in Irland mit natio¬ nalen Elementen gemischt; rein kirchlich ist sie zum erstenmale in dem modernen Preußen aufgetreten und bildet in der Ständeversammlung eine unbehagliche, bedenkliche, irrationale Größe. Eine protestantische Partei in katholischen Staaten kann es nicht geben, weil sie kein auswärtiges Kirchenoberhaupt hat. Die Protestanten werden dort in der Regel liberal sein. Einen bedeutenden Factor bei einer politischen Bewegung in Deutschland bilden die Juden. In Masse sind sie der Bewegung innerlich fremd, schließen sich aber um der Sicher¬ heit willen an. Ihre Literaten stehen auf der extremsten Seite (doch nicht alle), sie sind boshaft, frech, weil sie sich noch als Unterdrückte, d. l>. ausgeschlossen, von den Aemtern, fühlen. Das revolutionäre Element recrutirt sich stark aus den Schulmeistern, welche' die schlechtesten Zeitungen versorgen (R. v. Mohl kennt dies von Heidelberg her). Durch geringere Bildung (Regulative) und bessere Stellung wird nicht geholfen; eher durch gesündere Bildung in den Seminaren, durch landwirthschaftliche Kenntnisse und Grundbesitz. — Daß R. v. Mohl der Frauen nicht gedenkt, daß er ihnen nicht ebenfalls die Wahrheit sagen mag in diesem Umstände erkennen wir das einzige Zeichen zarter Rücksichtsnahme, welches uns in dem Buche vorgekommen ist. Der Abschnitt „Von Ständeversammlungen" behandelt die Fragen von dem allgemeinen Stimmrecht. Wählbarkeit der Beamten, Zusammensetzung der Kammern. Zweikammersystem und alle die Gegenstände, welche Bentham's par¬ lamentarische Taktik einer frühern Zeit, Niemand aber der Gegenwart so mei- 51*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/411>, abgerufen am 08.01.2025.