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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Laufe seines ganzen Lebens am wenigsten mit ihnen sich zu thun gemacht
habe, der Weiseste gewesen sei. Man sollte sich ansehen wie ein Brahmine
unter Sudras und Parias."

"In einer Welt, wo wenigstens fünf Sechstel Schurken oder Narren oder
Dummköpfe seien, müsse für jeden des übrigen Sechstel, und zwar um so mehr,
je weiter er von den Andern abstehe, die Basis seines Lebcnssystcms Zurück-
gezogenheit sein, je weiter, desto besser. Die Ueberzeugung, daß die Welt eine
Einöde sei, in der man nicht auf Gesellschaft zu rechnen habe, müsse zur Em¬
pfindung und habituell werden."

Diese Verachtung der Menschen muß sich sehr lange Zeit nur auf die eine
Hälfte des Geschlechts erstreckt haben. "Mit Lord Byron seufzte er oft, daß
es ihm so schwer werde, mit den Weibern zu brechen, und doch so leicht,
mit den Männern." Und erst von seinem hohen Alter gilt es, wenn sein
Biograph bemerkt: "vor Allem schätzte er sich mit Sophokles glücklich, dem
Taumel der Aphrodisien entrückt zu sein (der kurz vorher als "abnorm starke
Heftigkeit der Triebe" bezeichnet wird); denn in diesem Punkte war das Selbst-
genügen des Jünglings auf schwachen Füßen gestanden."

Mit dem, was Schopenhauer lehrte, was man etwa sein System nennen
könnte, können wir uns hier nicht eingehend beschäftigen. Eine kritische Ueber¬
sicht davon findet man im siebenten Abschnitt unsres Buchs. Seine Anhänger
meinen in seiner Lehre einen werthvollen Fortschritt, eine Vollendung des
Werkes Kants zu haben. Wir leugnen dies entschieden. Als geistreicher Kopf
hat Schopenhauer eine ziemliche Anzahl interessanter Entdeckungen gemacht,
z. B. daß die Welt androgyner Natur ist (wie die Auster), daß der Mensch
seinen Willen vom Vater, den Intellect oder die Vorstellung von der Mutter
erbt u. s. w. In anregender Weise und gutem Styl hat er den Umstand er¬
klärt, daß die Natur den Frauen den Bart versagt hat. Lesenswert!) ist, was
er über die Architektur der alten Griechen bemerkt, nicht unrichtig Manches von
dem, was er, freilich fast immer mit Uebertreibung, im Tone widerlichen Kei-
sers und das Kind mit dem Bade verschüttend, über Schelling und Hegel
äußert. Daß seine Philosophie eine neue Epoche bilden werde, daß diese bis
jetzt fast nur von Dilettanten gepriesene Lehre, die zuletzt auf Ertödtung des
Willens zu Gunsten des Intellects, auf die buddhistische Nirwana hinausläuft,
unsre Zeit erobern werde, ist glücklicherweise eben so wenig zu erwarten als
zu wünschen. Die deutsche Gegenwart hat sich von der Philosophie abgewandt,
um das, was der letzte große Philosoph, was Hegel Wahres gefunden, aus
dem Gebiet der Erfahrungswissenschaften, vor Allem auf dem der Geschichte,
praktisch zu verwerthen. Letztere und die Naturkunde sind es, in denen unser
Geschlecht für sein Heil arbeitet, von denen es sich für eine neue Epoche er¬
ziehen und rüsten läßt. Für speculative Wissenschaften D nur jnoch geringes


Laufe seines ganzen Lebens am wenigsten mit ihnen sich zu thun gemacht
habe, der Weiseste gewesen sei. Man sollte sich ansehen wie ein Brahmine
unter Sudras und Parias."

„In einer Welt, wo wenigstens fünf Sechstel Schurken oder Narren oder
Dummköpfe seien, müsse für jeden des übrigen Sechstel, und zwar um so mehr,
je weiter er von den Andern abstehe, die Basis seines Lebcnssystcms Zurück-
gezogenheit sein, je weiter, desto besser. Die Ueberzeugung, daß die Welt eine
Einöde sei, in der man nicht auf Gesellschaft zu rechnen habe, müsse zur Em¬
pfindung und habituell werden."

Diese Verachtung der Menschen muß sich sehr lange Zeit nur auf die eine
Hälfte des Geschlechts erstreckt haben. „Mit Lord Byron seufzte er oft, daß
es ihm so schwer werde, mit den Weibern zu brechen, und doch so leicht,
mit den Männern." Und erst von seinem hohen Alter gilt es, wenn sein
Biograph bemerkt: „vor Allem schätzte er sich mit Sophokles glücklich, dem
Taumel der Aphrodisien entrückt zu sein (der kurz vorher als „abnorm starke
Heftigkeit der Triebe" bezeichnet wird); denn in diesem Punkte war das Selbst-
genügen des Jünglings auf schwachen Füßen gestanden."

Mit dem, was Schopenhauer lehrte, was man etwa sein System nennen
könnte, können wir uns hier nicht eingehend beschäftigen. Eine kritische Ueber¬
sicht davon findet man im siebenten Abschnitt unsres Buchs. Seine Anhänger
meinen in seiner Lehre einen werthvollen Fortschritt, eine Vollendung des
Werkes Kants zu haben. Wir leugnen dies entschieden. Als geistreicher Kopf
hat Schopenhauer eine ziemliche Anzahl interessanter Entdeckungen gemacht,
z. B. daß die Welt androgyner Natur ist (wie die Auster), daß der Mensch
seinen Willen vom Vater, den Intellect oder die Vorstellung von der Mutter
erbt u. s. w. In anregender Weise und gutem Styl hat er den Umstand er¬
klärt, daß die Natur den Frauen den Bart versagt hat. Lesenswert!) ist, was
er über die Architektur der alten Griechen bemerkt, nicht unrichtig Manches von
dem, was er, freilich fast immer mit Uebertreibung, im Tone widerlichen Kei-
sers und das Kind mit dem Bade verschüttend, über Schelling und Hegel
äußert. Daß seine Philosophie eine neue Epoche bilden werde, daß diese bis
jetzt fast nur von Dilettanten gepriesene Lehre, die zuletzt auf Ertödtung des
Willens zu Gunsten des Intellects, auf die buddhistische Nirwana hinausläuft,
unsre Zeit erobern werde, ist glücklicherweise eben so wenig zu erwarten als
zu wünschen. Die deutsche Gegenwart hat sich von der Philosophie abgewandt,
um das, was der letzte große Philosoph, was Hegel Wahres gefunden, aus
dem Gebiet der Erfahrungswissenschaften, vor Allem auf dem der Geschichte,
praktisch zu verwerthen. Letztere und die Naturkunde sind es, in denen unser
Geschlecht für sein Heil arbeitet, von denen es sich für eine neue Epoche er¬
ziehen und rüsten läßt. Für speculative Wissenschaften D nur jnoch geringes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/196>, abgerufen am 08.01.2025.