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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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neunzig Procent aller Menschen, beachten nicht einmal das, was ein günstiger
Zufall ihnen Wissenswürdiges zuführt, weil Unfähigkeit und Vorurtheile die
bloße Wahrnehmung der sich selbst aufdrängenden Thatsachen hindern. Daher
ist es schon ein Verdienst, zufällig sich darbietende neue Thatsachen mit offenen
Sinnen aufzunehmen, und sie durch Aufzeichnung der Wissenschaft zu weiterer
Benutzung zu erhalten. Es will aber schon mehr sagen, wenn Einer, den
strengen Methoden folgend, die Lücken in dem System der Wissenschaft erkennt
und mit dem Willen, sie auszufüllen, an die Arbeit geht, und wenn so Entdeckungen
nicht zufällig gefunden, sondern in bestimmter Absicht aufgesucht werden. Glän¬
zende Entdeckungen aber treten dann hervor, wenn genialer Scharfsinn neue
Methoden der Forschung begründet, wenn neue Standpunkte gezeigt, neue
Wege zur Wahrheit gebahnt werden. Dann besteht der Gewinn nicht mehr
blos in einzelnen neuen Thatsachen, sondern es wird allen denen, welche arbeiten
können und wollen, eine neue Fähigkeit verliehen. Denn streng begründete For¬
schungsmethoden sind für die Wissenschaft, was die Sinne für den Körper sind,
sie führen zur Wahrnehmung von Dingen, die vorher nicht da zu sein schienen,
weil das Mittel, sie wahrzunehmen, fehlte. Zu dieser letzten Art von Ent¬
deckungen gehören die Untersuchungen von Bunsen und Kirchhofs. Durch die
Spektralanalyse ist der schärfste unserer Sinne, das Auge, um eine Fähigkeit
reicher geworden, sein Gebiet weit über seine früheren Grenzen hinaus erweitert.
Quantitäten von Stoffen, die früher absolut unwahrnehmbar waren, werden jetzt
auf die bequemste Weise durch brillante Erscheinungen beobachtet und das Sonnen¬
licht bringt uns selbst die Kunde von dem, was auf der Sonne und in ihrer
Atmosphäre stattfindet, die früher unerklärten Frauenhoferschen Linien sind
durch Kirchhoffs Entdeckungen eine lesbare Schrift geworden, von der einige der
wichtigsten Charaktere bereits erkannt sind. Dem Publicum ist es nicht selten
unbegreiflich, zu welchem Zweck die Naturforscher sich mit jahrelangen kleinlichen
und peinlichen Beobachtungen, wie Berichtigung von Zahlen u. s. w. beschäftigen.
Wer da weiß, daß Entdeckungen, wie die, von der wir eben berichteten, nur
möglich sind, wenn Hunderte von anderen Entdeckungen vorausgegangen sind,
der wird jene scheinbar pedantischen Bemühungen nicht fruchtlos nennen. Grade
Kirchhoffs Entdeckungen zeigen, wie unzählige kleine Verbesserungen und dem
Publicum unbekannt bleibende Entdeckungen verschiedener Jahrhunderte sich
endlich zu einem großen Resultat summiren, wenn eben der summirende Geist
sich findet. Die Hunderte von Erfindungen, welche die Construction der jetzigen
Fernröhre, die Composition und das Schleifen brauchbarer Gläser, die feine,
correcte Theilung eines Kreises u. s. w. ermöglichten, mußten vorausgehen,
bevor diese neuen Instrumente, diese neuen Methoden und überraschenden Resul¬
tate gefunden werden konnten. Wenn Entdeckungen von solchem Range auch
selten gemacht werden, so folgt das nicht allein aus der Seltenheit genialer


neunzig Procent aller Menschen, beachten nicht einmal das, was ein günstiger
Zufall ihnen Wissenswürdiges zuführt, weil Unfähigkeit und Vorurtheile die
bloße Wahrnehmung der sich selbst aufdrängenden Thatsachen hindern. Daher
ist es schon ein Verdienst, zufällig sich darbietende neue Thatsachen mit offenen
Sinnen aufzunehmen, und sie durch Aufzeichnung der Wissenschaft zu weiterer
Benutzung zu erhalten. Es will aber schon mehr sagen, wenn Einer, den
strengen Methoden folgend, die Lücken in dem System der Wissenschaft erkennt
und mit dem Willen, sie auszufüllen, an die Arbeit geht, und wenn so Entdeckungen
nicht zufällig gefunden, sondern in bestimmter Absicht aufgesucht werden. Glän¬
zende Entdeckungen aber treten dann hervor, wenn genialer Scharfsinn neue
Methoden der Forschung begründet, wenn neue Standpunkte gezeigt, neue
Wege zur Wahrheit gebahnt werden. Dann besteht der Gewinn nicht mehr
blos in einzelnen neuen Thatsachen, sondern es wird allen denen, welche arbeiten
können und wollen, eine neue Fähigkeit verliehen. Denn streng begründete For¬
schungsmethoden sind für die Wissenschaft, was die Sinne für den Körper sind,
sie führen zur Wahrnehmung von Dingen, die vorher nicht da zu sein schienen,
weil das Mittel, sie wahrzunehmen, fehlte. Zu dieser letzten Art von Ent¬
deckungen gehören die Untersuchungen von Bunsen und Kirchhofs. Durch die
Spektralanalyse ist der schärfste unserer Sinne, das Auge, um eine Fähigkeit
reicher geworden, sein Gebiet weit über seine früheren Grenzen hinaus erweitert.
Quantitäten von Stoffen, die früher absolut unwahrnehmbar waren, werden jetzt
auf die bequemste Weise durch brillante Erscheinungen beobachtet und das Sonnen¬
licht bringt uns selbst die Kunde von dem, was auf der Sonne und in ihrer
Atmosphäre stattfindet, die früher unerklärten Frauenhoferschen Linien sind
durch Kirchhoffs Entdeckungen eine lesbare Schrift geworden, von der einige der
wichtigsten Charaktere bereits erkannt sind. Dem Publicum ist es nicht selten
unbegreiflich, zu welchem Zweck die Naturforscher sich mit jahrelangen kleinlichen
und peinlichen Beobachtungen, wie Berichtigung von Zahlen u. s. w. beschäftigen.
Wer da weiß, daß Entdeckungen, wie die, von der wir eben berichteten, nur
möglich sind, wenn Hunderte von anderen Entdeckungen vorausgegangen sind,
der wird jene scheinbar pedantischen Bemühungen nicht fruchtlos nennen. Grade
Kirchhoffs Entdeckungen zeigen, wie unzählige kleine Verbesserungen und dem
Publicum unbekannt bleibende Entdeckungen verschiedener Jahrhunderte sich
endlich zu einem großen Resultat summiren, wenn eben der summirende Geist
sich findet. Die Hunderte von Erfindungen, welche die Construction der jetzigen
Fernröhre, die Composition und das Schleifen brauchbarer Gläser, die feine,
correcte Theilung eines Kreises u. s. w. ermöglichten, mußten vorausgehen,
bevor diese neuen Instrumente, diese neuen Methoden und überraschenden Resul¬
tate gefunden werden konnten. Wenn Entdeckungen von solchem Range auch
selten gemacht werden, so folgt das nicht allein aus der Seltenheit genialer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/516>, abgerufen am 23.07.2024.