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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Denn daß es gleich mit einem Worte gesagt werde, ein grundsätzlicher
Unterschied in der Auffassung der Antike ist zwischen dem Mittelalter und der
Renaissance des fünfzehnten Jahrhunderts nicht vorhanden. Die letztere zeigt
nur im höchsten Grade und in der größten Vollendung, was bereits das Mit¬
telalter angestrebt hatte, sie durchschneidet dieselben Bahnen, nur erreicht sie
auf denselben das Ziel und gewinnt den Preis. Die Formfreude, die Fähig¬
keit, schöne Formen voll des geistigen Gehaltes zu schaffen und zu genießen,
kehrt im fünfzehnten Jahrhundert wieder und steigert sich zur höchsten Macht.
Damit ist aber auch wie in den gleichstrebenden Zeiten des Mittelalters die
Sehnsucht nach der Antike, nur im Verhältnisse viel stärker und kräftiger, geweckt.
Eine zusammenhängende Uebersicht der Schöpfungen des classischen Alterthums
bleibt auch der Renaissanceperiode fremd, nur das Einzelne fesselt und erfreut
nach der Bedeutung desselben, nach dem Näheren seines Herkommens fragt man
nicht, genug daß es ist und dem Auge Befriedigung bietet. Auch der abergläu¬
bige Sinn, um einen andern Punkt der Uebereinstimmung mit dem Mittelalter
hervorzuheben, holt aus dem Alterthum Stoff und Nahrung und knüpft in
seinen astrologischen und netromantischen Träumen, in seiner Lehre von Talis¬
manen und Zaubern unmittelbar an dasselbe an.

Als Schatzgräber schildert das Mittelalter den Papst Sylvester den Zwei¬
ten und andere Männer, welche nach den in der Erde begrabenen Werken der
Antike forschten, ebenso sehen wir auch ganz am Schluß des fünfzehnten Jahr¬
hunderts den wißbegierigen Reisenden nach Virgils Zauberwerken zuerst fragen,
er horcht aufmerksamen Ohres den Legenden von Nerv's Grabe und den, von
Teufeln bewohnten Brunnen darüber, und der noch fremdartigeren Sage, wie
Friedrich Barbarossa die bekannten Rosse an der Marcuskirche in Venedig dahin
stiftete, er lenkt seine Schritte nach dem Venusberge bei Vjachia und vernimmt
staunend die endlose Reihe giltiger Predigten und untrüglicher Augurien, womit
sich die Italiener, die Humanisten obenan, beschäftigen.

In derArchitekturdes fünfzehnten Jahrhunderts und der folgendenZeiten sollen
Wir die untrüglichsten Zeugnisse von der reichen Wiederbelebung der Antike
erblicken. Wir zweifeln nicht daran im Angesicht der Monumente, die von
unten bis oben mit einzelnen Erinnerungen an antike Bauwerke erfüllt sind,
wir bestreiten aber, daß diese Wiederbelebung in einer wesentlich verschiedenen
Weist als in der spätromanischen Architektur vor sich ging. Sie war reicher
und vollkommener als die mittelalterliche Renaissance, holt aber von keinem
neuen Standpunkte aus. Zunächst müssen wir betonen, daß es sich der
Renaissancearchitektur nicht um die Ergründung des Wesens und der Bedeu¬
tung der qlten Architektur handelt, daß die Baukünstler die vorhandenen Ein¬
zelglieder und Fragmente in der Phantasie nicht zu einem geschlossenen System
aufbauen, sondern bei der Betrachtung und dem Genusse des Einzelnen be-


Denn daß es gleich mit einem Worte gesagt werde, ein grundsätzlicher
Unterschied in der Auffassung der Antike ist zwischen dem Mittelalter und der
Renaissance des fünfzehnten Jahrhunderts nicht vorhanden. Die letztere zeigt
nur im höchsten Grade und in der größten Vollendung, was bereits das Mit¬
telalter angestrebt hatte, sie durchschneidet dieselben Bahnen, nur erreicht sie
auf denselben das Ziel und gewinnt den Preis. Die Formfreude, die Fähig¬
keit, schöne Formen voll des geistigen Gehaltes zu schaffen und zu genießen,
kehrt im fünfzehnten Jahrhundert wieder und steigert sich zur höchsten Macht.
Damit ist aber auch wie in den gleichstrebenden Zeiten des Mittelalters die
Sehnsucht nach der Antike, nur im Verhältnisse viel stärker und kräftiger, geweckt.
Eine zusammenhängende Uebersicht der Schöpfungen des classischen Alterthums
bleibt auch der Renaissanceperiode fremd, nur das Einzelne fesselt und erfreut
nach der Bedeutung desselben, nach dem Näheren seines Herkommens fragt man
nicht, genug daß es ist und dem Auge Befriedigung bietet. Auch der abergläu¬
bige Sinn, um einen andern Punkt der Uebereinstimmung mit dem Mittelalter
hervorzuheben, holt aus dem Alterthum Stoff und Nahrung und knüpft in
seinen astrologischen und netromantischen Träumen, in seiner Lehre von Talis¬
manen und Zaubern unmittelbar an dasselbe an.

Als Schatzgräber schildert das Mittelalter den Papst Sylvester den Zwei¬
ten und andere Männer, welche nach den in der Erde begrabenen Werken der
Antike forschten, ebenso sehen wir auch ganz am Schluß des fünfzehnten Jahr¬
hunderts den wißbegierigen Reisenden nach Virgils Zauberwerken zuerst fragen,
er horcht aufmerksamen Ohres den Legenden von Nerv's Grabe und den, von
Teufeln bewohnten Brunnen darüber, und der noch fremdartigeren Sage, wie
Friedrich Barbarossa die bekannten Rosse an der Marcuskirche in Venedig dahin
stiftete, er lenkt seine Schritte nach dem Venusberge bei Vjachia und vernimmt
staunend die endlose Reihe giltiger Predigten und untrüglicher Augurien, womit
sich die Italiener, die Humanisten obenan, beschäftigen.

In derArchitekturdes fünfzehnten Jahrhunderts und der folgendenZeiten sollen
Wir die untrüglichsten Zeugnisse von der reichen Wiederbelebung der Antike
erblicken. Wir zweifeln nicht daran im Angesicht der Monumente, die von
unten bis oben mit einzelnen Erinnerungen an antike Bauwerke erfüllt sind,
wir bestreiten aber, daß diese Wiederbelebung in einer wesentlich verschiedenen
Weist als in der spätromanischen Architektur vor sich ging. Sie war reicher
und vollkommener als die mittelalterliche Renaissance, holt aber von keinem
neuen Standpunkte aus. Zunächst müssen wir betonen, daß es sich der
Renaissancearchitektur nicht um die Ergründung des Wesens und der Bedeu¬
tung der qlten Architektur handelt, daß die Baukünstler die vorhandenen Ein¬
zelglieder und Fragmente in der Phantasie nicht zu einem geschlossenen System
aufbauen, sondern bei der Betrachtung und dem Genusse des Einzelnen be-


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[0503] Denn daß es gleich mit einem Worte gesagt werde, ein grundsätzlicher Unterschied in der Auffassung der Antike ist zwischen dem Mittelalter und der Renaissance des fünfzehnten Jahrhunderts nicht vorhanden. Die letztere zeigt nur im höchsten Grade und in der größten Vollendung, was bereits das Mit¬ telalter angestrebt hatte, sie durchschneidet dieselben Bahnen, nur erreicht sie auf denselben das Ziel und gewinnt den Preis. Die Formfreude, die Fähig¬ keit, schöne Formen voll des geistigen Gehaltes zu schaffen und zu genießen, kehrt im fünfzehnten Jahrhundert wieder und steigert sich zur höchsten Macht. Damit ist aber auch wie in den gleichstrebenden Zeiten des Mittelalters die Sehnsucht nach der Antike, nur im Verhältnisse viel stärker und kräftiger, geweckt. Eine zusammenhängende Uebersicht der Schöpfungen des classischen Alterthums bleibt auch der Renaissanceperiode fremd, nur das Einzelne fesselt und erfreut nach der Bedeutung desselben, nach dem Näheren seines Herkommens fragt man nicht, genug daß es ist und dem Auge Befriedigung bietet. Auch der abergläu¬ bige Sinn, um einen andern Punkt der Uebereinstimmung mit dem Mittelalter hervorzuheben, holt aus dem Alterthum Stoff und Nahrung und knüpft in seinen astrologischen und netromantischen Träumen, in seiner Lehre von Talis¬ manen und Zaubern unmittelbar an dasselbe an. Als Schatzgräber schildert das Mittelalter den Papst Sylvester den Zwei¬ ten und andere Männer, welche nach den in der Erde begrabenen Werken der Antike forschten, ebenso sehen wir auch ganz am Schluß des fünfzehnten Jahr¬ hunderts den wißbegierigen Reisenden nach Virgils Zauberwerken zuerst fragen, er horcht aufmerksamen Ohres den Legenden von Nerv's Grabe und den, von Teufeln bewohnten Brunnen darüber, und der noch fremdartigeren Sage, wie Friedrich Barbarossa die bekannten Rosse an der Marcuskirche in Venedig dahin stiftete, er lenkt seine Schritte nach dem Venusberge bei Vjachia und vernimmt staunend die endlose Reihe giltiger Predigten und untrüglicher Augurien, womit sich die Italiener, die Humanisten obenan, beschäftigen. In derArchitekturdes fünfzehnten Jahrhunderts und der folgendenZeiten sollen Wir die untrüglichsten Zeugnisse von der reichen Wiederbelebung der Antike erblicken. Wir zweifeln nicht daran im Angesicht der Monumente, die von unten bis oben mit einzelnen Erinnerungen an antike Bauwerke erfüllt sind, wir bestreiten aber, daß diese Wiederbelebung in einer wesentlich verschiedenen Weist als in der spätromanischen Architektur vor sich ging. Sie war reicher und vollkommener als die mittelalterliche Renaissance, holt aber von keinem neuen Standpunkte aus. Zunächst müssen wir betonen, daß es sich der Renaissancearchitektur nicht um die Ergründung des Wesens und der Bedeu¬ tung der qlten Architektur handelt, daß die Baukünstler die vorhandenen Ein¬ zelglieder und Fragmente in der Phantasie nicht zu einem geschlossenen System aufbauen, sondern bei der Betrachtung und dem Genusse des Einzelnen be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/503>, abgerufen am 23.07.2024.