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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Aber soweit schon gegenwärtig unsere Kunde reicht, genügt sie zur Widerlegung
der gäng und gäben Meinung von der gänzlichen Unkenntniß der Antike. Wie
im Kreise der Architektur, so stoßen wir ebenfalls auf dem Gebiete der Plastik
auf eine lange Reihe der Antike entlehnter Motive. Auch hier, wenn wir auch
die Kämpfer, die Ringer, die Centauren und Sirenen, die Greife und die Har-
pyen nur als abgeschliffene, bald bedeutungslose, bald in ihrer Bedeutung Ver¬
sehrte Kunstvorstellungen annehmen, können wir uns der Ueberzeugung bewu߬
ter Alterthumsstudien nicht entschlagen. Es konnte nicht der Zufall oder die
dunkle Empfindung den Löwen dieselbe Stelle der Portalwächter im Mittel¬
alter einräumen, die ihnen im Alterthume überwiesen wurde, oder den Gor-
gonenmasken blos instinktmäßig im Lapidarium des Magister Marbod und ver¬
wandten Schriften die Kraft der Abwehr teuflischer Angriffe zugeschrieben wer¬
den, womit zusammenhängt, daß die Gorgonenmasken mit Vorliebe in der Nähe
vom Eingange, wie z. B. in der Vorhalle des Goslarer Domes, aufgestellt wur¬
den. Es wiederholt sich ferner auch auf dem Gebiete der Plastik das Schau¬
spiel, daß bestimmte Denkmale des classischen Alterthums einen dauernden Ein¬
fluß auf die Entwicklung der Localstyle üben und die antiken Vorbilder hervor¬
ragender Sculpturen des Mittelalters mit der größten Deutlichkeit nachgewiesen
werden können. Der Einfluß in Pisa bewahrter Sarkophagreliefs auf die
Kunst Niccola Pisano's ist oft genug hervorgehoben worden; ebenso ist die
Wiederholung der Ariadne im vatikanischen Museum in den Sculpturen der
Kanzel in Siena bekannt, desgleichen, daß die gallorömischen Sarkophage von
Aliscamp den größten Einfluß auf die proper^ausehen Bildhauer übten und
antike Sarkophage, in Arles bewahrt, in Gegenständen und Formen vollkommen
mit den Tympanonreliefs von Se. Gabriel (aus dem zwölften Jahrhundert)
übereinstimmen.

Nur beiläufig möge hier der zahlreichen Elfenbeinkästchen des Mittelalters
Erwähnung geschehen, die hier antike Kämpfergruppen reproduciren, dort
Gegenstände des griechischen Mythus, der alten Geschichte verkörpern, und da¬
bei so enge sich an die antike Formengebung halten, daß man versucht ist, sie
der spätrömischen Zeit zuzuschreiben, während sie doch nur der mittelalter¬
lichen Renaissance ihren Ursprung verdanken, und die Aufmerksamkeit auf die
sächsischen Sculpturwerke aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts ge¬
lenkt wird, welche beweisen, daß ähnlich wie in der Architektur, so auch in
der Plastik der Rückzug auf die antiken Formen die Kunst des spätromanischen
Styles charakterisirt.

Ueber die reichste Quelle, aus welcher die mittelalterlichen Künstler antike
Anregungen schöpften, sind wir leider, der Natur der Sache gemäß, am schlech¬
testen unterrichtet. Man kann keine Chronik des tieferen Mittelalters aufschla¬
gen, in welcher nicht von reichen Gemmenspenden, kirchlichen Geräthen einver-


Aber soweit schon gegenwärtig unsere Kunde reicht, genügt sie zur Widerlegung
der gäng und gäben Meinung von der gänzlichen Unkenntniß der Antike. Wie
im Kreise der Architektur, so stoßen wir ebenfalls auf dem Gebiete der Plastik
auf eine lange Reihe der Antike entlehnter Motive. Auch hier, wenn wir auch
die Kämpfer, die Ringer, die Centauren und Sirenen, die Greife und die Har-
pyen nur als abgeschliffene, bald bedeutungslose, bald in ihrer Bedeutung Ver¬
sehrte Kunstvorstellungen annehmen, können wir uns der Ueberzeugung bewu߬
ter Alterthumsstudien nicht entschlagen. Es konnte nicht der Zufall oder die
dunkle Empfindung den Löwen dieselbe Stelle der Portalwächter im Mittel¬
alter einräumen, die ihnen im Alterthume überwiesen wurde, oder den Gor-
gonenmasken blos instinktmäßig im Lapidarium des Magister Marbod und ver¬
wandten Schriften die Kraft der Abwehr teuflischer Angriffe zugeschrieben wer¬
den, womit zusammenhängt, daß die Gorgonenmasken mit Vorliebe in der Nähe
vom Eingange, wie z. B. in der Vorhalle des Goslarer Domes, aufgestellt wur¬
den. Es wiederholt sich ferner auch auf dem Gebiete der Plastik das Schau¬
spiel, daß bestimmte Denkmale des classischen Alterthums einen dauernden Ein¬
fluß auf die Entwicklung der Localstyle üben und die antiken Vorbilder hervor¬
ragender Sculpturen des Mittelalters mit der größten Deutlichkeit nachgewiesen
werden können. Der Einfluß in Pisa bewahrter Sarkophagreliefs auf die
Kunst Niccola Pisano's ist oft genug hervorgehoben worden; ebenso ist die
Wiederholung der Ariadne im vatikanischen Museum in den Sculpturen der
Kanzel in Siena bekannt, desgleichen, daß die gallorömischen Sarkophage von
Aliscamp den größten Einfluß auf die proper^ausehen Bildhauer übten und
antike Sarkophage, in Arles bewahrt, in Gegenständen und Formen vollkommen
mit den Tympanonreliefs von Se. Gabriel (aus dem zwölften Jahrhundert)
übereinstimmen.

Nur beiläufig möge hier der zahlreichen Elfenbeinkästchen des Mittelalters
Erwähnung geschehen, die hier antike Kämpfergruppen reproduciren, dort
Gegenstände des griechischen Mythus, der alten Geschichte verkörpern, und da¬
bei so enge sich an die antike Formengebung halten, daß man versucht ist, sie
der spätrömischen Zeit zuzuschreiben, während sie doch nur der mittelalter¬
lichen Renaissance ihren Ursprung verdanken, und die Aufmerksamkeit auf die
sächsischen Sculpturwerke aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts ge¬
lenkt wird, welche beweisen, daß ähnlich wie in der Architektur, so auch in
der Plastik der Rückzug auf die antiken Formen die Kunst des spätromanischen
Styles charakterisirt.

Ueber die reichste Quelle, aus welcher die mittelalterlichen Künstler antike
Anregungen schöpften, sind wir leider, der Natur der Sache gemäß, am schlech¬
testen unterrichtet. Man kann keine Chronik des tieferen Mittelalters aufschla¬
gen, in welcher nicht von reichen Gemmenspenden, kirchlichen Geräthen einver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/500>, abgerufen am 29.12.2024.