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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Das achtzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert des Verstandes und
der Ausklärung. Das war seine Starke und seine Schwäche. Es erschien
seicht, sagt Strauß, weil es klar war; weil es viel Verstand hatte, schien es
wenig Geist zu haben. Einseitig war das achtzehnte Jahrhundert, das ist
gewiß; aber kräftige Einseitigkeit ist allemal der Charakter geschichtlicher Fort-
schrittspcrioden. während satte Vielseitigkeit die Zeiten des Stillstands be¬
zeichnet. Das achtzehnte Jalnhnndcrt war unhistorisch, es verstand eigentlich
nur sich selbst; um so klarer wußte es aber auch, was es wollte und sollte.

Bisher hatte die Religion des Alten und Neuen Testaments als ein
göttliches Werk im höchsten Sinn gegolten: es war nur die natürliche Folge,
wenn sie dafür jetzt als Menschenweck im übelsten Sinn aufgefaßt wurde.
So weit der Pendel auf der einen Seite aus dem Schwerpunkt gerückt wor¬
den, ebenso weit muß er, losgelassen, nach der andern Seite schwingen, bis er
durch Schwingung und Gegenschwingung allmälig sein Gleichgewicht wieder
erreicht. Bisher hatte man unter den Religionen einzig die jüdische und
christliche für wahr und göttlich, die sogenannten heidnischen wie die moham¬
medanische für falsche Religionen, wo nicht für teuflische, angesehen. Diese Un¬
gleichheit war dem achtzehnten Jahrhundert vermöge seines - erweiterten ge¬
schichtlichen und geographischen Gesichtskreises unmöglich. Entweder auch die
heidnischen Religionen sammt dem Islam göttliche Offenbarungen -- aber
wie war das möglich bei so viel Irrthum und Widersinn, den das acht¬
zehnte Jahrhundert darin zu finden glaubte? und wie war überhaupt eine
übernatürliche Offenbarung mit dem Gottes- und Weltbegriff dieses Jahr¬
hunderts vereinbar? -- oder auch Juden- und Christenthum Erzeugnisse mensch¬
lichen Betrugs aus der einen, menschlichen Aberglaubens auf der andern Seite.
Alle positiven Religionen ohne Ausnahme Werke des Betrugs: das war des
achtzehnten Jahrhunderts innerste Hcrzensmeinung.

Aber zugleich hielt das achtzehnte Jahrhundert bei dieser Ansicht an der
Voraussetzung des geschichtlichen Charakters der biblischen Berichte fest, die
es noch keiner genauen eigenen Prüfung unterworfen hatte. Die Kritik be¬
obachtete damit ein willkürlich halbireudes Verfahren: sie gab an der Wunder¬
erzählung den wunderhaften Charakter auf und hielt doch den historischen
fest. Erst wenn auch der geschichtliche Charakter der Erzählung abgestreift,
das Band zwischen dem Ereigniß und der Erzählung noch weiter gelockert
war, wurde für die Personen der biblischen Geschichte eine andere billigere
Behandlung möglich, wie andrerseits das Verständniß der Religion überhaupt
erst damit aufgeschlossen wurde, daß man die Phantasie, das eigentlich religions¬
bildende Element in Rechnung zu nehmen lernte. Nichts ist in diesem Sinne
bezeichnender für die verschiedenen geistigen Entwicklungsstufen als die ver¬
schiedene Auffassung der Auferstehung Jesu. Nach der kirchlichen Ansicht ist


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Das achtzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert des Verstandes und
der Ausklärung. Das war seine Starke und seine Schwäche. Es erschien
seicht, sagt Strauß, weil es klar war; weil es viel Verstand hatte, schien es
wenig Geist zu haben. Einseitig war das achtzehnte Jahrhundert, das ist
gewiß; aber kräftige Einseitigkeit ist allemal der Charakter geschichtlicher Fort-
schrittspcrioden. während satte Vielseitigkeit die Zeiten des Stillstands be¬
zeichnet. Das achtzehnte Jalnhnndcrt war unhistorisch, es verstand eigentlich
nur sich selbst; um so klarer wußte es aber auch, was es wollte und sollte.

Bisher hatte die Religion des Alten und Neuen Testaments als ein
göttliches Werk im höchsten Sinn gegolten: es war nur die natürliche Folge,
wenn sie dafür jetzt als Menschenweck im übelsten Sinn aufgefaßt wurde.
So weit der Pendel auf der einen Seite aus dem Schwerpunkt gerückt wor¬
den, ebenso weit muß er, losgelassen, nach der andern Seite schwingen, bis er
durch Schwingung und Gegenschwingung allmälig sein Gleichgewicht wieder
erreicht. Bisher hatte man unter den Religionen einzig die jüdische und
christliche für wahr und göttlich, die sogenannten heidnischen wie die moham¬
medanische für falsche Religionen, wo nicht für teuflische, angesehen. Diese Un¬
gleichheit war dem achtzehnten Jahrhundert vermöge seines - erweiterten ge¬
schichtlichen und geographischen Gesichtskreises unmöglich. Entweder auch die
heidnischen Religionen sammt dem Islam göttliche Offenbarungen — aber
wie war das möglich bei so viel Irrthum und Widersinn, den das acht¬
zehnte Jahrhundert darin zu finden glaubte? und wie war überhaupt eine
übernatürliche Offenbarung mit dem Gottes- und Weltbegriff dieses Jahr¬
hunderts vereinbar? — oder auch Juden- und Christenthum Erzeugnisse mensch¬
lichen Betrugs aus der einen, menschlichen Aberglaubens auf der andern Seite.
Alle positiven Religionen ohne Ausnahme Werke des Betrugs: das war des
achtzehnten Jahrhunderts innerste Hcrzensmeinung.

Aber zugleich hielt das achtzehnte Jahrhundert bei dieser Ansicht an der
Voraussetzung des geschichtlichen Charakters der biblischen Berichte fest, die
es noch keiner genauen eigenen Prüfung unterworfen hatte. Die Kritik be¬
obachtete damit ein willkürlich halbireudes Verfahren: sie gab an der Wunder¬
erzählung den wunderhaften Charakter auf und hielt doch den historischen
fest. Erst wenn auch der geschichtliche Charakter der Erzählung abgestreift,
das Band zwischen dem Ereigniß und der Erzählung noch weiter gelockert
war, wurde für die Personen der biblischen Geschichte eine andere billigere
Behandlung möglich, wie andrerseits das Verständniß der Religion überhaupt
erst damit aufgeschlossen wurde, daß man die Phantasie, das eigentlich religions¬
bildende Element in Rechnung zu nehmen lernte. Nichts ist in diesem Sinne
bezeichnender für die verschiedenen geistigen Entwicklungsstufen als die ver¬
schiedene Auffassung der Auferstehung Jesu. Nach der kirchlichen Ansicht ist


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[0419] Das achtzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert des Verstandes und der Ausklärung. Das war seine Starke und seine Schwäche. Es erschien seicht, sagt Strauß, weil es klar war; weil es viel Verstand hatte, schien es wenig Geist zu haben. Einseitig war das achtzehnte Jahrhundert, das ist gewiß; aber kräftige Einseitigkeit ist allemal der Charakter geschichtlicher Fort- schrittspcrioden. während satte Vielseitigkeit die Zeiten des Stillstands be¬ zeichnet. Das achtzehnte Jalnhnndcrt war unhistorisch, es verstand eigentlich nur sich selbst; um so klarer wußte es aber auch, was es wollte und sollte. Bisher hatte die Religion des Alten und Neuen Testaments als ein göttliches Werk im höchsten Sinn gegolten: es war nur die natürliche Folge, wenn sie dafür jetzt als Menschenweck im übelsten Sinn aufgefaßt wurde. So weit der Pendel auf der einen Seite aus dem Schwerpunkt gerückt wor¬ den, ebenso weit muß er, losgelassen, nach der andern Seite schwingen, bis er durch Schwingung und Gegenschwingung allmälig sein Gleichgewicht wieder erreicht. Bisher hatte man unter den Religionen einzig die jüdische und christliche für wahr und göttlich, die sogenannten heidnischen wie die moham¬ medanische für falsche Religionen, wo nicht für teuflische, angesehen. Diese Un¬ gleichheit war dem achtzehnten Jahrhundert vermöge seines - erweiterten ge¬ schichtlichen und geographischen Gesichtskreises unmöglich. Entweder auch die heidnischen Religionen sammt dem Islam göttliche Offenbarungen — aber wie war das möglich bei so viel Irrthum und Widersinn, den das acht¬ zehnte Jahrhundert darin zu finden glaubte? und wie war überhaupt eine übernatürliche Offenbarung mit dem Gottes- und Weltbegriff dieses Jahr¬ hunderts vereinbar? — oder auch Juden- und Christenthum Erzeugnisse mensch¬ lichen Betrugs aus der einen, menschlichen Aberglaubens auf der andern Seite. Alle positiven Religionen ohne Ausnahme Werke des Betrugs: das war des achtzehnten Jahrhunderts innerste Hcrzensmeinung. Aber zugleich hielt das achtzehnte Jahrhundert bei dieser Ansicht an der Voraussetzung des geschichtlichen Charakters der biblischen Berichte fest, die es noch keiner genauen eigenen Prüfung unterworfen hatte. Die Kritik be¬ obachtete damit ein willkürlich halbireudes Verfahren: sie gab an der Wunder¬ erzählung den wunderhaften Charakter auf und hielt doch den historischen fest. Erst wenn auch der geschichtliche Charakter der Erzählung abgestreift, das Band zwischen dem Ereigniß und der Erzählung noch weiter gelockert war, wurde für die Personen der biblischen Geschichte eine andere billigere Behandlung möglich, wie andrerseits das Verständniß der Religion überhaupt erst damit aufgeschlossen wurde, daß man die Phantasie, das eigentlich religions¬ bildende Element in Rechnung zu nehmen lernte. Nichts ist in diesem Sinne bezeichnender für die verschiedenen geistigen Entwicklungsstufen als die ver¬ schiedene Auffassung der Auferstehung Jesu. Nach der kirchlichen Ansicht ist 52"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/419>, abgerufen am 26.08.2024.