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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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äußerte, die weitgehende Folgesätze in sich schlössen, wenn Bayle in seinem Diction-
naire die Personen des alten Testaments einer äußerst Herden moralischen Beurthei¬
lung unterwarf, und endlich namentlich bei den englischen Deisten eine Reihe
von Untersuchungen über die Offenbarung, über das Wunder, die Glaub¬
würdigkeit der biblischen Berichte, die Weissagungen von Christus u. s. w.
vorlag, so hatte noch kein anderer wie Reimarus das ganze Gebiet dieser
Einzeluntersuchungen gleichmäßig beherrscht, die Konsequenzen rücksichtsloser
gezogen. Alles in ununterbrochner Folge abgeleitet aus wenigen obersten
Grundsätzen. Seine Apologie zog die Summe alles dessen, was die deistische
Theologie bisher im Einzelnen geleistet hatte, und es mag demnach wohl als
ein tragisches Geschick erscheinen, daß er, der die Fragmente der theologischen
Forschung im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Mal in ein ge¬
schlossenes System gebracht hat. selbst nur als Fragmentist der Nachwelt be¬
kannt werden sollte. Dies mag man denn auch als die Sühne für die ge¬
flissentliche Geheimhaltung seines Buchs betrachten, wenn anders seine Fähigkeit,
eine so innige Ueberzeugung, ein so warmes Pathos in sich zu verschließen,
durch kein Wort, keine Miene den draußen Stehenden Anlaß zum Verdacht zu
geben, nicht vielmehr, mit Strauß zu reden, ein Beweis höchster Selbstüber¬
windung, ein aller Achtung werther Stoicismus gewesen ist.

Strauß begnügt sich jedoch, wie gesagt, nicht mit dem rein historischen
Interesse, einen Schriftsteller, der für seine Zeit von Bedeutung gewesen ist;
der unsrigen wieder näher zu bringen, Ein Hauptmotiv lag für ihn viel¬
mehr in den theologischen Zuständen der Gegenwart, und sobald die Rei-
marusschen Ansichten selbst auf ihre Stichhaltigkeit angesehen und im Licht
der fortgeschrittenen Wissenschaft beurtheilt werden sollte", war in der That
diese Bezugnahme aus die neuere Theologie gar nicht zu vermeiden. Der
Behauptung der modernen Theologen, daß die Kritik des Reimarus ein über¬
wundener Standpunkt sei, mußte näher auf den Grund gegangen und gezeigt
werden, worin sie veraltet ist, worin sie aber auch andrerseits sich als unver¬
lierbare Wahrheit erprobt hat. Zu diesem Zweck wird der Auszug der Schutz¬
schrift an manchen Stellen unterbrochen, um nachzuweise", daß sowohl die
Grundsätze, von denen der ehrliche Wolsianer ausgeht, als auch gar oft ihre
Anwendung sich "och heut vollkommen mit Ehren sehen lassen können, ja
daß grade die neuere Kritik des alten Testaments, die so vornehm auf Rei¬
marus herabsieht, oft genug keinen Schritt weiter gekommen ist, sondern noch
ganz auf dessen Standpunkt steht.

Aber Strauß geht noch weiter: er faßt die Frage principieller auf und
geht überhaupt auf den Gegensatz des achtzehnten und neunzehnten Jahr¬
hunderts zurück, um den rechte" Standpunkt für die Würdigung der Reimarus-
schen Kritik zu gewinnen.


äußerte, die weitgehende Folgesätze in sich schlössen, wenn Bayle in seinem Diction-
naire die Personen des alten Testaments einer äußerst Herden moralischen Beurthei¬
lung unterwarf, und endlich namentlich bei den englischen Deisten eine Reihe
von Untersuchungen über die Offenbarung, über das Wunder, die Glaub¬
würdigkeit der biblischen Berichte, die Weissagungen von Christus u. s. w.
vorlag, so hatte noch kein anderer wie Reimarus das ganze Gebiet dieser
Einzeluntersuchungen gleichmäßig beherrscht, die Konsequenzen rücksichtsloser
gezogen. Alles in ununterbrochner Folge abgeleitet aus wenigen obersten
Grundsätzen. Seine Apologie zog die Summe alles dessen, was die deistische
Theologie bisher im Einzelnen geleistet hatte, und es mag demnach wohl als
ein tragisches Geschick erscheinen, daß er, der die Fragmente der theologischen
Forschung im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Mal in ein ge¬
schlossenes System gebracht hat. selbst nur als Fragmentist der Nachwelt be¬
kannt werden sollte. Dies mag man denn auch als die Sühne für die ge¬
flissentliche Geheimhaltung seines Buchs betrachten, wenn anders seine Fähigkeit,
eine so innige Ueberzeugung, ein so warmes Pathos in sich zu verschließen,
durch kein Wort, keine Miene den draußen Stehenden Anlaß zum Verdacht zu
geben, nicht vielmehr, mit Strauß zu reden, ein Beweis höchster Selbstüber¬
windung, ein aller Achtung werther Stoicismus gewesen ist.

Strauß begnügt sich jedoch, wie gesagt, nicht mit dem rein historischen
Interesse, einen Schriftsteller, der für seine Zeit von Bedeutung gewesen ist;
der unsrigen wieder näher zu bringen, Ein Hauptmotiv lag für ihn viel¬
mehr in den theologischen Zuständen der Gegenwart, und sobald die Rei-
marusschen Ansichten selbst auf ihre Stichhaltigkeit angesehen und im Licht
der fortgeschrittenen Wissenschaft beurtheilt werden sollte», war in der That
diese Bezugnahme aus die neuere Theologie gar nicht zu vermeiden. Der
Behauptung der modernen Theologen, daß die Kritik des Reimarus ein über¬
wundener Standpunkt sei, mußte näher auf den Grund gegangen und gezeigt
werden, worin sie veraltet ist, worin sie aber auch andrerseits sich als unver¬
lierbare Wahrheit erprobt hat. Zu diesem Zweck wird der Auszug der Schutz¬
schrift an manchen Stellen unterbrochen, um nachzuweise», daß sowohl die
Grundsätze, von denen der ehrliche Wolsianer ausgeht, als auch gar oft ihre
Anwendung sich »och heut vollkommen mit Ehren sehen lassen können, ja
daß grade die neuere Kritik des alten Testaments, die so vornehm auf Rei¬
marus herabsieht, oft genug keinen Schritt weiter gekommen ist, sondern noch
ganz auf dessen Standpunkt steht.

Aber Strauß geht noch weiter: er faßt die Frage principieller auf und
geht überhaupt auf den Gegensatz des achtzehnten und neunzehnten Jahr¬
hunderts zurück, um den rechte» Standpunkt für die Würdigung der Reimarus-
schen Kritik zu gewinnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/418>, abgerufen am 23.07.2024.