Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mcintlichen Vortheil des Augenblicks leiten läßt. Wer Nußland kannte, durste
immer sagen: Rußland wird liberal, sobald sich eine Veranlassung dazu fin¬
det. Er wußte freilich eben so gut. daß diese Veranlassung lediglich vom herr¬
schenden System ausgehn könnte. Und so ist es allerdings das Verdienst oder
die Schuld Alexander's des Zweiren, wenn sie sich jüngst gefunden hat. Macht
als Selbstzweck, wir wissen es, ist der Grundgedanke des herrschenden Systems
in Nußland, und das Volksbewußtsein hat sich ja längst damit identificirt.
Rußland will das "Schrecken der Völker" sein, wie Hertzen richtig gesagt hat.
So lange ihm der Despotismus dazu verhalf. ging es unbedingt mit diesem;
kein Mensch sah damals eine "Veranlassung" liberal zu sein. Da kam das
Mißgeschick des orientalischen Krieges. Zu Hohn und Spott des Abendlandes
offenbarte sich die gefürchtete Macht als klägliche Ohnmacht; aus dem Rausch
der Weltherrschaft erwachte Nußland zum Katzenjammer europäischer Mißach¬
tung. Wer trug die Schuld am Unheil? Gewohnt wie man seit Jahrhunder¬
ten war alle Schicksale, alle Ereignisse von der obersten Gewalt herzuleiten,
wußte man jetzt Niemand zu beschuldigen als den Despotismus. Das Volk
wurde irre an seinem Idol: zum ersten Mal seit einem Jahrtausend. Der
Despotismus hatte sich schwach gezeigt,: wie man ihn vor Kurzem noch ver¬
göttert hatte, so verfluchte man ihn jetzt. Man war rathlos: wer wußte ein
Mittel das heilige Nußland wieder groß und mächtig zu machen, wie es zu¬
vor gewesen? Da verkündete Alexander der Zweite, er wisse dies Mittel: es
sei die Freiheit. Der Despot dachte besser und edler von der Freiheit als
seine Unterthanen; er hatte ebensowohl seines Volkes sittliche Besserung und
Veredlung als die äußere Macht im Auge; er dachte an ein "neues Nußland".
Aber natürlich: Rußland verstand ihn nicht, wie er Rußland nicht verstanden
haltet Die Freiheit, die dem Kaiser Zweck war. wußte das Volk nur als
Mittel zu fassen. Und nun ging es natürlich rasch und flott mit dem Libera¬
lismus, seitdem einmal Veranlassung dazu gegeben war. Mitleidig sah man
bald genug auf seiue europäischen Lehrmeister. Seht, hieß es, wir sind erst
seit gestern liberal und sind schon viel weiter darin als ihr, die ihr euch
seit dreihundert Zähren mit "Ideen" plagt. Und in der That, über Nacht
war aus dem Liberalismus der wildeste Radicalismus geworden. Alle Sta¬
dien-der Revolution sind moralisch längst durchlaufen, alle denkbaren Stand¬
punkte übermunden, alle sittlichen Scrupel beseitigt. Natürlich genug, wo es
sich einzig und allein um möglichst rasche Resultate, nicht im Geringsten um
Ueberzeugung handelt; natürlich genug, da alle die überwundenen Stand¬
punkte, alle die übersprungenen Schranken für die russischen Liberalen gar nicht
existiren. Rußland, so ist der einzige Gedanke, soll durch die Revolution wie¬
der zu seiner' vorigen Machtstellung gelangen; also Revolution um jeden
Preis!


mcintlichen Vortheil des Augenblicks leiten läßt. Wer Nußland kannte, durste
immer sagen: Rußland wird liberal, sobald sich eine Veranlassung dazu fin¬
det. Er wußte freilich eben so gut. daß diese Veranlassung lediglich vom herr¬
schenden System ausgehn könnte. Und so ist es allerdings das Verdienst oder
die Schuld Alexander's des Zweiren, wenn sie sich jüngst gefunden hat. Macht
als Selbstzweck, wir wissen es, ist der Grundgedanke des herrschenden Systems
in Nußland, und das Volksbewußtsein hat sich ja längst damit identificirt.
Rußland will das „Schrecken der Völker" sein, wie Hertzen richtig gesagt hat.
So lange ihm der Despotismus dazu verhalf. ging es unbedingt mit diesem;
kein Mensch sah damals eine „Veranlassung" liberal zu sein. Da kam das
Mißgeschick des orientalischen Krieges. Zu Hohn und Spott des Abendlandes
offenbarte sich die gefürchtete Macht als klägliche Ohnmacht; aus dem Rausch
der Weltherrschaft erwachte Nußland zum Katzenjammer europäischer Mißach¬
tung. Wer trug die Schuld am Unheil? Gewohnt wie man seit Jahrhunder¬
ten war alle Schicksale, alle Ereignisse von der obersten Gewalt herzuleiten,
wußte man jetzt Niemand zu beschuldigen als den Despotismus. Das Volk
wurde irre an seinem Idol: zum ersten Mal seit einem Jahrtausend. Der
Despotismus hatte sich schwach gezeigt,: wie man ihn vor Kurzem noch ver¬
göttert hatte, so verfluchte man ihn jetzt. Man war rathlos: wer wußte ein
Mittel das heilige Nußland wieder groß und mächtig zu machen, wie es zu¬
vor gewesen? Da verkündete Alexander der Zweite, er wisse dies Mittel: es
sei die Freiheit. Der Despot dachte besser und edler von der Freiheit als
seine Unterthanen; er hatte ebensowohl seines Volkes sittliche Besserung und
Veredlung als die äußere Macht im Auge; er dachte an ein „neues Nußland".
Aber natürlich: Rußland verstand ihn nicht, wie er Rußland nicht verstanden
haltet Die Freiheit, die dem Kaiser Zweck war. wußte das Volk nur als
Mittel zu fassen. Und nun ging es natürlich rasch und flott mit dem Libera¬
lismus, seitdem einmal Veranlassung dazu gegeben war. Mitleidig sah man
bald genug auf seiue europäischen Lehrmeister. Seht, hieß es, wir sind erst
seit gestern liberal und sind schon viel weiter darin als ihr, die ihr euch
seit dreihundert Zähren mit „Ideen" plagt. Und in der That, über Nacht
war aus dem Liberalismus der wildeste Radicalismus geworden. Alle Sta¬
dien-der Revolution sind moralisch längst durchlaufen, alle denkbaren Stand¬
punkte übermunden, alle sittlichen Scrupel beseitigt. Natürlich genug, wo es
sich einzig und allein um möglichst rasche Resultate, nicht im Geringsten um
Ueberzeugung handelt; natürlich genug, da alle die überwundenen Stand¬
punkte, alle die übersprungenen Schranken für die russischen Liberalen gar nicht
existiren. Rußland, so ist der einzige Gedanke, soll durch die Revolution wie¬
der zu seiner' vorigen Machtstellung gelangen; also Revolution um jeden
Preis!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0383" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113625"/>
          <p xml:id="ID_1176" prev="#ID_1175"> mcintlichen Vortheil des Augenblicks leiten läßt. Wer Nußland kannte, durste<lb/>
immer sagen: Rußland wird liberal, sobald sich eine Veranlassung dazu fin¬<lb/>
det. Er wußte freilich eben so gut. daß diese Veranlassung lediglich vom herr¬<lb/>
schenden System ausgehn könnte. Und so ist es allerdings das Verdienst oder<lb/>
die Schuld Alexander's des Zweiren, wenn sie sich jüngst gefunden hat. Macht<lb/>
als Selbstzweck, wir wissen es, ist der Grundgedanke des herrschenden Systems<lb/>
in Nußland, und das Volksbewußtsein hat sich ja längst damit identificirt.<lb/>
Rußland will das &#x201E;Schrecken der Völker" sein, wie Hertzen richtig gesagt hat.<lb/>
So lange ihm der Despotismus dazu verhalf. ging es unbedingt mit diesem;<lb/>
kein Mensch sah damals eine &#x201E;Veranlassung" liberal zu sein. Da kam das<lb/>
Mißgeschick des orientalischen Krieges. Zu Hohn und Spott des Abendlandes<lb/>
offenbarte sich die gefürchtete Macht als klägliche Ohnmacht; aus dem Rausch<lb/>
der Weltherrschaft erwachte Nußland zum Katzenjammer europäischer Mißach¬<lb/>
tung. Wer trug die Schuld am Unheil? Gewohnt wie man seit Jahrhunder¬<lb/>
ten war alle Schicksale, alle Ereignisse von der obersten Gewalt herzuleiten,<lb/>
wußte man jetzt Niemand zu beschuldigen als den Despotismus. Das Volk<lb/>
wurde irre an seinem Idol: zum ersten Mal seit einem Jahrtausend. Der<lb/>
Despotismus hatte sich schwach gezeigt,: wie man ihn vor Kurzem noch ver¬<lb/>
göttert hatte, so verfluchte man ihn jetzt. Man war rathlos: wer wußte ein<lb/>
Mittel das heilige Nußland wieder groß und mächtig zu machen, wie es zu¬<lb/>
vor gewesen? Da verkündete Alexander der Zweite, er wisse dies Mittel: es<lb/>
sei die Freiheit. Der Despot dachte besser und edler von der Freiheit als<lb/>
seine Unterthanen; er hatte ebensowohl seines Volkes sittliche Besserung und<lb/>
Veredlung als die äußere Macht im Auge; er dachte an ein &#x201E;neues Nußland".<lb/>
Aber natürlich: Rußland verstand ihn nicht, wie er Rußland nicht verstanden<lb/>
haltet Die Freiheit, die dem Kaiser Zweck war. wußte das Volk nur als<lb/>
Mittel zu fassen. Und nun ging es natürlich rasch und flott mit dem Libera¬<lb/>
lismus, seitdem einmal Veranlassung dazu gegeben war. Mitleidig sah man<lb/>
bald genug auf seiue europäischen Lehrmeister. Seht, hieß es, wir sind erst<lb/>
seit gestern liberal und sind schon viel weiter darin als ihr, die ihr euch<lb/>
seit dreihundert Zähren mit &#x201E;Ideen" plagt. Und in der That, über Nacht<lb/>
war aus dem Liberalismus der wildeste Radicalismus geworden. Alle Sta¬<lb/>
dien-der Revolution sind moralisch längst durchlaufen, alle denkbaren Stand¬<lb/>
punkte übermunden, alle sittlichen Scrupel beseitigt. Natürlich genug, wo es<lb/>
sich einzig und allein um möglichst rasche Resultate, nicht im Geringsten um<lb/>
Ueberzeugung handelt; natürlich genug, da alle die überwundenen Stand¬<lb/>
punkte, alle die übersprungenen Schranken für die russischen Liberalen gar nicht<lb/>
existiren. Rußland, so ist der einzige Gedanke, soll durch die Revolution wie¬<lb/>
der zu seiner' vorigen Machtstellung gelangen; also Revolution um jeden<lb/>
Preis!</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0383] mcintlichen Vortheil des Augenblicks leiten läßt. Wer Nußland kannte, durste immer sagen: Rußland wird liberal, sobald sich eine Veranlassung dazu fin¬ det. Er wußte freilich eben so gut. daß diese Veranlassung lediglich vom herr¬ schenden System ausgehn könnte. Und so ist es allerdings das Verdienst oder die Schuld Alexander's des Zweiren, wenn sie sich jüngst gefunden hat. Macht als Selbstzweck, wir wissen es, ist der Grundgedanke des herrschenden Systems in Nußland, und das Volksbewußtsein hat sich ja längst damit identificirt. Rußland will das „Schrecken der Völker" sein, wie Hertzen richtig gesagt hat. So lange ihm der Despotismus dazu verhalf. ging es unbedingt mit diesem; kein Mensch sah damals eine „Veranlassung" liberal zu sein. Da kam das Mißgeschick des orientalischen Krieges. Zu Hohn und Spott des Abendlandes offenbarte sich die gefürchtete Macht als klägliche Ohnmacht; aus dem Rausch der Weltherrschaft erwachte Nußland zum Katzenjammer europäischer Mißach¬ tung. Wer trug die Schuld am Unheil? Gewohnt wie man seit Jahrhunder¬ ten war alle Schicksale, alle Ereignisse von der obersten Gewalt herzuleiten, wußte man jetzt Niemand zu beschuldigen als den Despotismus. Das Volk wurde irre an seinem Idol: zum ersten Mal seit einem Jahrtausend. Der Despotismus hatte sich schwach gezeigt,: wie man ihn vor Kurzem noch ver¬ göttert hatte, so verfluchte man ihn jetzt. Man war rathlos: wer wußte ein Mittel das heilige Nußland wieder groß und mächtig zu machen, wie es zu¬ vor gewesen? Da verkündete Alexander der Zweite, er wisse dies Mittel: es sei die Freiheit. Der Despot dachte besser und edler von der Freiheit als seine Unterthanen; er hatte ebensowohl seines Volkes sittliche Besserung und Veredlung als die äußere Macht im Auge; er dachte an ein „neues Nußland". Aber natürlich: Rußland verstand ihn nicht, wie er Rußland nicht verstanden haltet Die Freiheit, die dem Kaiser Zweck war. wußte das Volk nur als Mittel zu fassen. Und nun ging es natürlich rasch und flott mit dem Libera¬ lismus, seitdem einmal Veranlassung dazu gegeben war. Mitleidig sah man bald genug auf seiue europäischen Lehrmeister. Seht, hieß es, wir sind erst seit gestern liberal und sind schon viel weiter darin als ihr, die ihr euch seit dreihundert Zähren mit „Ideen" plagt. Und in der That, über Nacht war aus dem Liberalismus der wildeste Radicalismus geworden. Alle Sta¬ dien-der Revolution sind moralisch längst durchlaufen, alle denkbaren Stand¬ punkte übermunden, alle sittlichen Scrupel beseitigt. Natürlich genug, wo es sich einzig und allein um möglichst rasche Resultate, nicht im Geringsten um Ueberzeugung handelt; natürlich genug, da alle die überwundenen Stand¬ punkte, alle die übersprungenen Schranken für die russischen Liberalen gar nicht existiren. Rußland, so ist der einzige Gedanke, soll durch die Revolution wie¬ der zu seiner' vorigen Machtstellung gelangen; also Revolution um jeden Preis!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/383
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/383>, abgerufen am 23.07.2024.