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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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mögen wir uns eine wirkliche Entwicklung des Ganzen nicht zu denken. In
Rußland war im Gegentheil von alter bis in die neueste Zeit das Streben
darauf gerichtet, jeden Einzelwillen, jedes Bewußtsein der Persönlichkeit zu bre-
chen und das Volk zu einer passiven Masse zusammenzutreten. in der sich nur
noch Atome, keine Individuen mehr finden lassen.

Daß nach dem geschichtlichen Verlauf der russischen Dinge eine gesunde und
im Wesen der Nation begründete Umkehr zum Liberalismus nicht zu erwar¬
ten steht, ist wohl ebenso klar, als gewiß ist, daß die Gegenwart immer das
Ergebniß der Vergangenheit ist. Und die gegenwärtige Fäulniß, die Verderbt¬
heit der öffentlichen Zustände, was ist sie anders als die nothwendige Folge
jenes geschichtlichen Verlaufs? Nußland ist seit Jahrhunderten den entgegen¬
gesetzten Weg gegangen als die Entwicklung des europäischen Staatslebens
überhaupt: und da es dennoch den äußeren Einflüssen der frisch fortschreiten¬
den Cultur sich nicht entziehen konnte, bietet es nun den widerlichen Anblick
einer innerlich roh und barbarisch gebliebenen und doch von allen Lastern
einer verfeinerten Gesittung zerfressenen Nation.

Die Verehrer des russischen Liberalismus geben diesen verrotteten Zustand
der öffentlichen Dinge nicht nur zu, nein sie suchen sogar politisches Capital
daraus zu schlagen. Je schwärzer sie die Dinge malen, desto schlimmer fährt
das herrschende System dabei, dem sie alle Schuld ausschließlich aufbürden
und das sie in keiner Weise als Ausdruck des nationalen Wesens gelten las¬
sen. Für ihre eigene Theorie von der Trefflichkeit des russischen Volkes aber
glauben sie einen schlagenden Beweis zu besitzen: die altslavische Gemeincver-
fassung; dasjenige also, was allein Eigenthümliches das Volk aus sich selber
herausgebildet hat. Jene ist, so sagen sie,, die wahre organische Grundlage
des russischen Lebens, die der Despotismus trotz aller Mühe nicht hat zerstören
können; noch heute besteht sie ungebrochen fort; in ihr ruht der kräftige Keim
einer zukünftigen, glücklichen Entwicklung Rußlands.

Diese Ansicht, die auf den ersten Blick etwas Bestechendes hat. ist im
Abendlande vorzugsweise durch Hertzen verbreitet worden. Wie man weiß,
gedenkt er seine socialistisch-föderative Slavenrepublik auf die altrussische Ge¬
meine zu gründen, die allerdings in ihrer Organisation einen starken kommu¬
nistischen Beigeschmack hat. Glänzende Schilderungen der ungebrochenen Ur-
kraft des jungen Osten sollten dem greisenhafter Westen imponiren. nament¬
lich aber meinte Hertzen. in richtiger Erkenntniß unserer Schwächen, durch die
starke Betonung, die er auf die angebliche Selbstverwaltung der russischen Ge-
meine legte, uns für seine Pläne gewinnen zu können. Und: somxer all-
yuick dasret. Wenn es ihm auch nicht gelang, uns an eine panslavistische
Social-Republik der Zukunft glauben zu machen: mit seiner slavischen Gemeine
und ihrer Selbstverwaltung hat er manchen auch nicht gewöhnlichen Verstand


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mögen wir uns eine wirkliche Entwicklung des Ganzen nicht zu denken. In
Rußland war im Gegentheil von alter bis in die neueste Zeit das Streben
darauf gerichtet, jeden Einzelwillen, jedes Bewußtsein der Persönlichkeit zu bre-
chen und das Volk zu einer passiven Masse zusammenzutreten. in der sich nur
noch Atome, keine Individuen mehr finden lassen.

Daß nach dem geschichtlichen Verlauf der russischen Dinge eine gesunde und
im Wesen der Nation begründete Umkehr zum Liberalismus nicht zu erwar¬
ten steht, ist wohl ebenso klar, als gewiß ist, daß die Gegenwart immer das
Ergebniß der Vergangenheit ist. Und die gegenwärtige Fäulniß, die Verderbt¬
heit der öffentlichen Zustände, was ist sie anders als die nothwendige Folge
jenes geschichtlichen Verlaufs? Nußland ist seit Jahrhunderten den entgegen¬
gesetzten Weg gegangen als die Entwicklung des europäischen Staatslebens
überhaupt: und da es dennoch den äußeren Einflüssen der frisch fortschreiten¬
den Cultur sich nicht entziehen konnte, bietet es nun den widerlichen Anblick
einer innerlich roh und barbarisch gebliebenen und doch von allen Lastern
einer verfeinerten Gesittung zerfressenen Nation.

Die Verehrer des russischen Liberalismus geben diesen verrotteten Zustand
der öffentlichen Dinge nicht nur zu, nein sie suchen sogar politisches Capital
daraus zu schlagen. Je schwärzer sie die Dinge malen, desto schlimmer fährt
das herrschende System dabei, dem sie alle Schuld ausschließlich aufbürden
und das sie in keiner Weise als Ausdruck des nationalen Wesens gelten las¬
sen. Für ihre eigene Theorie von der Trefflichkeit des russischen Volkes aber
glauben sie einen schlagenden Beweis zu besitzen: die altslavische Gemeincver-
fassung; dasjenige also, was allein Eigenthümliches das Volk aus sich selber
herausgebildet hat. Jene ist, so sagen sie,, die wahre organische Grundlage
des russischen Lebens, die der Despotismus trotz aller Mühe nicht hat zerstören
können; noch heute besteht sie ungebrochen fort; in ihr ruht der kräftige Keim
einer zukünftigen, glücklichen Entwicklung Rußlands.

Diese Ansicht, die auf den ersten Blick etwas Bestechendes hat. ist im
Abendlande vorzugsweise durch Hertzen verbreitet worden. Wie man weiß,
gedenkt er seine socialistisch-föderative Slavenrepublik auf die altrussische Ge¬
meine zu gründen, die allerdings in ihrer Organisation einen starken kommu¬
nistischen Beigeschmack hat. Glänzende Schilderungen der ungebrochenen Ur-
kraft des jungen Osten sollten dem greisenhafter Westen imponiren. nament¬
lich aber meinte Hertzen. in richtiger Erkenntniß unserer Schwächen, durch die
starke Betonung, die er auf die angebliche Selbstverwaltung der russischen Ge-
meine legte, uns für seine Pläne gewinnen zu können. Und: somxer all-
yuick dasret. Wenn es ihm auch nicht gelang, uns an eine panslavistische
Social-Republik der Zukunft glauben zu machen: mit seiner slavischen Gemeine
und ihrer Selbstverwaltung hat er manchen auch nicht gewöhnlichen Verstand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/379>, abgerufen am 26.08.2024.