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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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ein Lager, ein Jeder darin Soldat sein, in der Kaserne oder im Bureau; um
rastloser lebenslänglicher Dienst Existenzberechtigung im Staate gewahren.
Praktischer Ausdruck dieser Anschauung wurde jene Rangordnung, -durch welche
das russische Volk bis auf den heutigen Tag in 14 große Klassen eingetheilt
wi-rd. Besondere Ukase verschärften die Dienstsclaverei des Adels bis zum
Unerträglichen. Jeder vorhandene Druck ward verzehnfacht, Sitte und Her¬
kommen ebenso rücksichtslos unter die Füße getreten als Gesetz und Recht.
Gegen Ende seiner Regierung, als alles Murren verstummt, aller Widerstand
mit unmenschlicher Härte gebrochen war, meinte Peter. Rußland habe keinen
Herrn, denn es habe deren zwei: einen über die Leiber und einen über die
Seelen. Ein Herr oder keiner! Er entsetzte das geistliche Oberhaupt des Reichs,
den Patriarchen von Moskau, seiner Würden und bekleidete sich selber damit.

Wie-nur Wenige durfte er bei seinem Tode sich sagen, daß er im'Großen
und Ganzen das Ziel seines Strebens erreicht habe. Es war ihm gelungen,
jene furchtbare, aber vielfach nur ideelle Macht, die er überkommen, zum prak¬
tischen Ausdruck zu bringen. Rußlands Gesammtkraft 'konnte von nun an Sön
jeder Zeit auf einen Punkt concentrirt werden. Und eine so ungeheure Ener¬
gie hat er in das "System" gelegt, mit einem solchen Nimbus der Allmacht
'es umgeben, daß selbst so schwächliche Repräsentanten wie die nächsten Nach¬
folger Peter's dies -ehern" Gefügt leicht -zusammenhalten konnten. Principieller
Steigerung war der Despotismus freilich nicht mehr fähig; Peter 'hatte seine
Entwicklung bis um die Grenze des Denkbaren gesührr. Es trat sogar mit
den Fortschritten äußerer Europäisirung eure Milderung der alten barbarischen
Formen ein. So wurde z. B. unter Peter dem Dritten der Adel von der körperlichen
Züchtigung befreit, welcher er seit der Mongolenzeit unterworfen gewesen.
Katharina die Zweite pflegte sich in liberalen Redensarten zu gefallen: bekanntlich
hat sie mit Voltaire in diesem Sinn correspondirt, sich von Diderot Univer-
sitätspliwe und Entwürfe zur Erziehung der Jugend ausarbeiten lassen und
d'Alembert zum Hofmeister ihres Sohnes machen wollen. Manchmal hatte
es sogar den Anschein, als ob aus den Worten Thaten werden sollten. Mit
großem Geräusch berief sie eine Deputirtenversammlung nach Moskau, welche
über ein neues Gesetzbuch zu berathen hatte. Freilich ging dieselbe ganz un-
verrichteter-Sache auseinander: es war der Regierung keinen Augenblick Ernst
mit der Sache gewesen. Dasselbe heuchlerische, lediglich auf Täuschung Europa's
abgesehene Spiel trieb sie mit der Octroyirung der Provincialverfassungen,
durch welche den verschiedenen Gouvernements auf dem Papier ein sehr aus-
gedehntes Selbstverwaltungsrecht eingeräumt ward. Aber auch eben nur auf
dem Papier. In Wirklichkeit blieb nach wie vor die unumschränkte Macht
der Generalgouverneure bestehn, und es zeigte sich wieder einmal die klägliche
Ohnmacht des Adels, dem in jenen Verfassungen besondere Rechte zugestanden


Grenzboten I. 1362. 47

ein Lager, ein Jeder darin Soldat sein, in der Kaserne oder im Bureau; um
rastloser lebenslänglicher Dienst Existenzberechtigung im Staate gewahren.
Praktischer Ausdruck dieser Anschauung wurde jene Rangordnung, -durch welche
das russische Volk bis auf den heutigen Tag in 14 große Klassen eingetheilt
wi-rd. Besondere Ukase verschärften die Dienstsclaverei des Adels bis zum
Unerträglichen. Jeder vorhandene Druck ward verzehnfacht, Sitte und Her¬
kommen ebenso rücksichtslos unter die Füße getreten als Gesetz und Recht.
Gegen Ende seiner Regierung, als alles Murren verstummt, aller Widerstand
mit unmenschlicher Härte gebrochen war, meinte Peter. Rußland habe keinen
Herrn, denn es habe deren zwei: einen über die Leiber und einen über die
Seelen. Ein Herr oder keiner! Er entsetzte das geistliche Oberhaupt des Reichs,
den Patriarchen von Moskau, seiner Würden und bekleidete sich selber damit.

Wie-nur Wenige durfte er bei seinem Tode sich sagen, daß er im'Großen
und Ganzen das Ziel seines Strebens erreicht habe. Es war ihm gelungen,
jene furchtbare, aber vielfach nur ideelle Macht, die er überkommen, zum prak¬
tischen Ausdruck zu bringen. Rußlands Gesammtkraft 'konnte von nun an Sön
jeder Zeit auf einen Punkt concentrirt werden. Und eine so ungeheure Ener¬
gie hat er in das „System" gelegt, mit einem solchen Nimbus der Allmacht
'es umgeben, daß selbst so schwächliche Repräsentanten wie die nächsten Nach¬
folger Peter's dies -ehern« Gefügt leicht -zusammenhalten konnten. Principieller
Steigerung war der Despotismus freilich nicht mehr fähig; Peter 'hatte seine
Entwicklung bis um die Grenze des Denkbaren gesührr. Es trat sogar mit
den Fortschritten äußerer Europäisirung eure Milderung der alten barbarischen
Formen ein. So wurde z. B. unter Peter dem Dritten der Adel von der körperlichen
Züchtigung befreit, welcher er seit der Mongolenzeit unterworfen gewesen.
Katharina die Zweite pflegte sich in liberalen Redensarten zu gefallen: bekanntlich
hat sie mit Voltaire in diesem Sinn correspondirt, sich von Diderot Univer-
sitätspliwe und Entwürfe zur Erziehung der Jugend ausarbeiten lassen und
d'Alembert zum Hofmeister ihres Sohnes machen wollen. Manchmal hatte
es sogar den Anschein, als ob aus den Worten Thaten werden sollten. Mit
großem Geräusch berief sie eine Deputirtenversammlung nach Moskau, welche
über ein neues Gesetzbuch zu berathen hatte. Freilich ging dieselbe ganz un-
verrichteter-Sache auseinander: es war der Regierung keinen Augenblick Ernst
mit der Sache gewesen. Dasselbe heuchlerische, lediglich auf Täuschung Europa's
abgesehene Spiel trieb sie mit der Octroyirung der Provincialverfassungen,
durch welche den verschiedenen Gouvernements auf dem Papier ein sehr aus-
gedehntes Selbstverwaltungsrecht eingeräumt ward. Aber auch eben nur auf
dem Papier. In Wirklichkeit blieb nach wie vor die unumschränkte Macht
der Generalgouverneure bestehn, und es zeigte sich wieder einmal die klägliche
Ohnmacht des Adels, dem in jenen Verfassungen besondere Rechte zugestanden


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[0377] ein Lager, ein Jeder darin Soldat sein, in der Kaserne oder im Bureau; um rastloser lebenslänglicher Dienst Existenzberechtigung im Staate gewahren. Praktischer Ausdruck dieser Anschauung wurde jene Rangordnung, -durch welche das russische Volk bis auf den heutigen Tag in 14 große Klassen eingetheilt wi-rd. Besondere Ukase verschärften die Dienstsclaverei des Adels bis zum Unerträglichen. Jeder vorhandene Druck ward verzehnfacht, Sitte und Her¬ kommen ebenso rücksichtslos unter die Füße getreten als Gesetz und Recht. Gegen Ende seiner Regierung, als alles Murren verstummt, aller Widerstand mit unmenschlicher Härte gebrochen war, meinte Peter. Rußland habe keinen Herrn, denn es habe deren zwei: einen über die Leiber und einen über die Seelen. Ein Herr oder keiner! Er entsetzte das geistliche Oberhaupt des Reichs, den Patriarchen von Moskau, seiner Würden und bekleidete sich selber damit. Wie-nur Wenige durfte er bei seinem Tode sich sagen, daß er im'Großen und Ganzen das Ziel seines Strebens erreicht habe. Es war ihm gelungen, jene furchtbare, aber vielfach nur ideelle Macht, die er überkommen, zum prak¬ tischen Ausdruck zu bringen. Rußlands Gesammtkraft 'konnte von nun an Sön jeder Zeit auf einen Punkt concentrirt werden. Und eine so ungeheure Ener¬ gie hat er in das „System" gelegt, mit einem solchen Nimbus der Allmacht 'es umgeben, daß selbst so schwächliche Repräsentanten wie die nächsten Nach¬ folger Peter's dies -ehern« Gefügt leicht -zusammenhalten konnten. Principieller Steigerung war der Despotismus freilich nicht mehr fähig; Peter 'hatte seine Entwicklung bis um die Grenze des Denkbaren gesührr. Es trat sogar mit den Fortschritten äußerer Europäisirung eure Milderung der alten barbarischen Formen ein. So wurde z. B. unter Peter dem Dritten der Adel von der körperlichen Züchtigung befreit, welcher er seit der Mongolenzeit unterworfen gewesen. Katharina die Zweite pflegte sich in liberalen Redensarten zu gefallen: bekanntlich hat sie mit Voltaire in diesem Sinn correspondirt, sich von Diderot Univer- sitätspliwe und Entwürfe zur Erziehung der Jugend ausarbeiten lassen und d'Alembert zum Hofmeister ihres Sohnes machen wollen. Manchmal hatte es sogar den Anschein, als ob aus den Worten Thaten werden sollten. Mit großem Geräusch berief sie eine Deputirtenversammlung nach Moskau, welche über ein neues Gesetzbuch zu berathen hatte. Freilich ging dieselbe ganz un- verrichteter-Sache auseinander: es war der Regierung keinen Augenblick Ernst mit der Sache gewesen. Dasselbe heuchlerische, lediglich auf Täuschung Europa's abgesehene Spiel trieb sie mit der Octroyirung der Provincialverfassungen, durch welche den verschiedenen Gouvernements auf dem Papier ein sehr aus- gedehntes Selbstverwaltungsrecht eingeräumt ward. Aber auch eben nur auf dem Papier. In Wirklichkeit blieb nach wie vor die unumschränkte Macht der Generalgouverneure bestehn, und es zeigte sich wieder einmal die klägliche Ohnmacht des Adels, dem in jenen Verfassungen besondere Rechte zugestanden Grenzboten I. 1362. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/377>, abgerufen am 23.07.2024.