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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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tend mit ihrer völligen Nullität war. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich deutlich, wo
der wahre Schwerpunkt der Macht lag, und wie wenig dem Volk an dem "Stück
Papier" gelegen war, das die Bojaren für die Magna Charta der russischen
Freiheit angesehen wissen wollten. Widerstand wurde nirgends versucht. Man
schickte die angesehensten Bojaren in die Verbannung und zwang die Mitglie¬
der jener Ständeversammlung, von welcher der beschränkende Staatsvertrag
ausgegangen war. ihre Unterschrist nunmehr unter einen neuen octrvyirten zu
setzen, worin der absoluten Gewalt vollkommen freie Hand gegeben war. Von
Zeit zu Zeit berief man die gespensterhafte Volksvertretung dann noch zusam¬
men, um sie zu den Maßregeln der Regierung Ja sagen zu lassen: wirklichen
Einfluß hat sie nie mehr gewinnen können. Unbekümmert und unbehindert
schritt der Despotismus auf seiner Bahn vorwärts. Noch unter der Regie¬
rung Michael's hob Philaret Romanow die von Johann dem Vierten wiederherge¬
stellten Schwurgenchte endgiltig aus und fetzte die Vereinigung der richterlichen
und der administrativen Gewalt in den Händen der Provincialstatthal-
ter durch.

So schien zu Ende des 17. Jahrhunderts das System unbedingter Will¬
kür die Grenzen des Möglichen erreicht zu haben: in blinder Ergebenheit
legte die Nation was sie an sittlicher und physischer Kraft besaß dem Despo¬
tismus zu Füßen. Aber noch blieb ihm Eines zu thun übrig: so schrankenlos
seine Gewalt nach innen war. so ohnmächtig zeigte er sich nach außen; denn
noch verstand er es nicht, jene willige, aber rohe und ungefüge Kraft zu orga-
nisiren und zu verwenden. Diese letzte und abschließende Vollendung des des¬
potischen Regiments war Peter dem Großen vorbehalten. Er hat den Des-
potismus disciplinirt und damit in die sichere Bahn geleitet, die er seitdem
nicht mehr verlassen hat. Macht nach außen um jeden Preis ward von nun
an das Ziel, dem alle übrigen Zwecke des Staats als bloßeMittel unterge¬
ordnet wurden. Auch die Civilisation. Nicht um ihrer selbst willen, sondern
weil sie ihm Machtmittel war, hat Peter sie gewollt. Und nicht durch Frei¬
heit, meinte er, werde Nußland groß, sondern durch "Ordnung". Darum hat
er unter europäischer Cultur auch wesentlich europäische Disciplin verstanden:
ein wohlgedrilltes Heer und eine Staatsmaschine nach abendländischer Schab¬
lone, darauf war sein Hauptaugenmerk gerichtet. Die freiheitlicher Entwick¬
lung günstigen Momente westlicher Bildung hat er zwar benutzt, aber nur so
weit es ihm zur Ausbildung oder Ablichtung jener beiden Hauptsactoren seiner
Macht nothwendig schien: begünstigt hat er sie nie. Maschinenmäßige Disci¬
plin sollte es möglich machen, Rußlands Gesammtkrafr in jedem Augenblick
auf einen einzigen Punkt zu concentriren: und Jedermann und jedes Ding
in Nußland unter diese Disciplin zu zwingen, dazu hat er das despotische
Princip bis zu seinen letzten Consequenzen getrieben. Das ganze Reich solle


tend mit ihrer völligen Nullität war. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich deutlich, wo
der wahre Schwerpunkt der Macht lag, und wie wenig dem Volk an dem „Stück
Papier" gelegen war, das die Bojaren für die Magna Charta der russischen
Freiheit angesehen wissen wollten. Widerstand wurde nirgends versucht. Man
schickte die angesehensten Bojaren in die Verbannung und zwang die Mitglie¬
der jener Ständeversammlung, von welcher der beschränkende Staatsvertrag
ausgegangen war. ihre Unterschrist nunmehr unter einen neuen octrvyirten zu
setzen, worin der absoluten Gewalt vollkommen freie Hand gegeben war. Von
Zeit zu Zeit berief man die gespensterhafte Volksvertretung dann noch zusam¬
men, um sie zu den Maßregeln der Regierung Ja sagen zu lassen: wirklichen
Einfluß hat sie nie mehr gewinnen können. Unbekümmert und unbehindert
schritt der Despotismus auf seiner Bahn vorwärts. Noch unter der Regie¬
rung Michael's hob Philaret Romanow die von Johann dem Vierten wiederherge¬
stellten Schwurgenchte endgiltig aus und fetzte die Vereinigung der richterlichen
und der administrativen Gewalt in den Händen der Provincialstatthal-
ter durch.

So schien zu Ende des 17. Jahrhunderts das System unbedingter Will¬
kür die Grenzen des Möglichen erreicht zu haben: in blinder Ergebenheit
legte die Nation was sie an sittlicher und physischer Kraft besaß dem Despo¬
tismus zu Füßen. Aber noch blieb ihm Eines zu thun übrig: so schrankenlos
seine Gewalt nach innen war. so ohnmächtig zeigte er sich nach außen; denn
noch verstand er es nicht, jene willige, aber rohe und ungefüge Kraft zu orga-
nisiren und zu verwenden. Diese letzte und abschließende Vollendung des des¬
potischen Regiments war Peter dem Großen vorbehalten. Er hat den Des-
potismus disciplinirt und damit in die sichere Bahn geleitet, die er seitdem
nicht mehr verlassen hat. Macht nach außen um jeden Preis ward von nun
an das Ziel, dem alle übrigen Zwecke des Staats als bloßeMittel unterge¬
ordnet wurden. Auch die Civilisation. Nicht um ihrer selbst willen, sondern
weil sie ihm Machtmittel war, hat Peter sie gewollt. Und nicht durch Frei¬
heit, meinte er, werde Nußland groß, sondern durch „Ordnung". Darum hat
er unter europäischer Cultur auch wesentlich europäische Disciplin verstanden:
ein wohlgedrilltes Heer und eine Staatsmaschine nach abendländischer Schab¬
lone, darauf war sein Hauptaugenmerk gerichtet. Die freiheitlicher Entwick¬
lung günstigen Momente westlicher Bildung hat er zwar benutzt, aber nur so
weit es ihm zur Ausbildung oder Ablichtung jener beiden Hauptsactoren seiner
Macht nothwendig schien: begünstigt hat er sie nie. Maschinenmäßige Disci¬
plin sollte es möglich machen, Rußlands Gesammtkrafr in jedem Augenblick
auf einen einzigen Punkt zu concentriren: und Jedermann und jedes Ding
in Nußland unter diese Disciplin zu zwingen, dazu hat er das despotische
Princip bis zu seinen letzten Consequenzen getrieben. Das ganze Reich solle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/376>, abgerufen am 23.07.2024.