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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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läßt die geringe Bedeutung jenes Standes der czarischen Allmacht gegenüber
deutlich erkennen. In der That konnte von einer Aristokratie keine Rede mehr
sein, seitdem sie von Johann dem Dritten in eine erbliche Beamtenkaste umgewandelt
worden; fortan galt der Edelmann als solcher nur in so sern er zugleich Staats¬
diener war. Eine bevorzugte ^Lebensstellung konnte Niemand mehr kraft seiner
Geburt beanspruchen; sie war lediglich als Ausfluß czarischcr Machtvollkommen¬
heit, als Belohnung geleisteter Dienste zu betrachten. An der Willfährigkeit
dieses Sclavenadels konnte nur einem Usurpator wie Boris Godunow gelegen
sein. Und wenn er ihm eine Concession machte, so geschah auch das despo¬
tischer Zwecke halber. Den Knecht wußte er zu gewinnen, >"dem er ihm Knechte
gab. Mit der Aufhebung des alten Wanderrechts der russischen Bauern ward
die Leibeigenschaft thatsächlich begründet und damit dem letzten Rest freier Be¬
wegung im Volke ein Ende gemacht; denn bisher hatte der Bauer vielleicht
am wenigsten von dem despotischen Druck empfunden, der die höheren Stände
längst entwürdigte. Uebrigens war der Vortheil, welcher dem Adel aus der
ganzen Maßregel erwuchs, wesentlich nur ein ökonomischer. Schon der Um¬
stand, daß sie nur den kleinen Grundbesitzern zu Gute kam, die Bojaren aber
gänzlich davon ausgeschlossen waren, zeigt, daß eine Kräftigung der politi¬
schen Stellung des Adels damit keineswegs beabsichtigt war. In der That
verblieb es durchaus bei dem alten demüthigenden Verhältniß. Gleichwohl
gaben die Bojaren ihre traditionellen Ansprüche auf Einfluß nicht auf; und
es kam eine Zeit, wo alle äußern Umstände diese Bestrebungen so sehr begün¬
stigten, daß eine Krisis des Despotismus unvermeidlich schien.

Während jener blutigen Wirren, welche die Zeit vom Erlöschen des Hau¬
ses Rum? bis zur Thronbesteigung der Familie Romanow kennzeichnen, konnte
es den Bojaren als der immerhin reichsten und einflußreichsten Volksklasse
nicht schwer fallen, thatsächlich alle Macht an sich zu reißen. Keine der
wiederholten Czarwahlcn jener Tage war ohne ihre Zustimmung zu Stande
gekommen. Jedesmal schlossen sie förmliche Verträge mit dem Gewühlten, in
welchen ihnen ein bedeutendes Maß von Einfluß zugesichert wurde; nnr gegen
das Versprechen nicht ohne Mitwirkung einer Ständeversammlung d. h. der
Bojaren regieren zu wollen ist Michael Romanow im Jahre I6t3 auf ven
Thron gelangt.

Sechs Jahre lang blieb der Vertrag mit den Ständen in Kraft: der
Despotismus, so schien es, hatte sich selber aufgegeben. Aber bald zngte sich,
nur so lange als es an einer geeigneten Persönlichkeit fehlte, seine Ansprüche
geltend zu machen. Kaum war nämlich Pyilaret Romanow, der energische
u,ut, rücksichtslose Vater des schwachherzigen Czaren, aus polnischer Gefangen¬
schaft zurückgekehrt, als er einen Staatsstreich machte und die Rechte der Stände
auf eine blos berathende Stimme reducirte, was selbstverständlich glcichbcdeu-


läßt die geringe Bedeutung jenes Standes der czarischen Allmacht gegenüber
deutlich erkennen. In der That konnte von einer Aristokratie keine Rede mehr
sein, seitdem sie von Johann dem Dritten in eine erbliche Beamtenkaste umgewandelt
worden; fortan galt der Edelmann als solcher nur in so sern er zugleich Staats¬
diener war. Eine bevorzugte ^Lebensstellung konnte Niemand mehr kraft seiner
Geburt beanspruchen; sie war lediglich als Ausfluß czarischcr Machtvollkommen¬
heit, als Belohnung geleisteter Dienste zu betrachten. An der Willfährigkeit
dieses Sclavenadels konnte nur einem Usurpator wie Boris Godunow gelegen
sein. Und wenn er ihm eine Concession machte, so geschah auch das despo¬
tischer Zwecke halber. Den Knecht wußte er zu gewinnen, >»dem er ihm Knechte
gab. Mit der Aufhebung des alten Wanderrechts der russischen Bauern ward
die Leibeigenschaft thatsächlich begründet und damit dem letzten Rest freier Be¬
wegung im Volke ein Ende gemacht; denn bisher hatte der Bauer vielleicht
am wenigsten von dem despotischen Druck empfunden, der die höheren Stände
längst entwürdigte. Uebrigens war der Vortheil, welcher dem Adel aus der
ganzen Maßregel erwuchs, wesentlich nur ein ökonomischer. Schon der Um¬
stand, daß sie nur den kleinen Grundbesitzern zu Gute kam, die Bojaren aber
gänzlich davon ausgeschlossen waren, zeigt, daß eine Kräftigung der politi¬
schen Stellung des Adels damit keineswegs beabsichtigt war. In der That
verblieb es durchaus bei dem alten demüthigenden Verhältniß. Gleichwohl
gaben die Bojaren ihre traditionellen Ansprüche auf Einfluß nicht auf; und
es kam eine Zeit, wo alle äußern Umstände diese Bestrebungen so sehr begün¬
stigten, daß eine Krisis des Despotismus unvermeidlich schien.

Während jener blutigen Wirren, welche die Zeit vom Erlöschen des Hau¬
ses Rum? bis zur Thronbesteigung der Familie Romanow kennzeichnen, konnte
es den Bojaren als der immerhin reichsten und einflußreichsten Volksklasse
nicht schwer fallen, thatsächlich alle Macht an sich zu reißen. Keine der
wiederholten Czarwahlcn jener Tage war ohne ihre Zustimmung zu Stande
gekommen. Jedesmal schlossen sie förmliche Verträge mit dem Gewühlten, in
welchen ihnen ein bedeutendes Maß von Einfluß zugesichert wurde; nnr gegen
das Versprechen nicht ohne Mitwirkung einer Ständeversammlung d. h. der
Bojaren regieren zu wollen ist Michael Romanow im Jahre I6t3 auf ven
Thron gelangt.

Sechs Jahre lang blieb der Vertrag mit den Ständen in Kraft: der
Despotismus, so schien es, hatte sich selber aufgegeben. Aber bald zngte sich,
nur so lange als es an einer geeigneten Persönlichkeit fehlte, seine Ansprüche
geltend zu machen. Kaum war nämlich Pyilaret Romanow, der energische
u,ut, rücksichtslose Vater des schwachherzigen Czaren, aus polnischer Gefangen¬
schaft zurückgekehrt, als er einen Staatsstreich machte und die Rechte der Stände
auf eine blos berathende Stimme reducirte, was selbstverständlich glcichbcdeu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/375>, abgerufen am 23.07.2024.