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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Was ein Volk ist, welche praktische Fähigkeiten es in sich trägt, wie
weit die Staatsform, die seit Jahrhunderten ihm aufgedrückt ist, seinem Wesen
entspricht, das zeigt naturgemäß am schärfsten und klarsten der Verlauf seiner
Geschichte.

Eine Bemerkung Dolgorukow's paßt vortrefflich, uns mitten in den eigent¬
lichen Gang derselben zu führen.

"Vor tausend Jahren", so schließt der Fürst sein Buch, "schickten die
Slaven Gesandte zu Rurik und seinen Brüdern und ließen ihnen sagen:
unser Land ist groß und fruchtbar, aber es herrscht Anarchie bei uns; kommt,
befreit uns von dieser Geißel. Nach tausendjährigem Bestehn, nach Er¬
schöpfung aller Formen des Despotismus befindet sich Rußland wieder am
Rande des Abgrundes, und wir sprechen zu Alexander dem Zweiten: Majestät,
unser Land ist groß und fruchtbar, aber Willkür und Käuflichkeit herrschen
darin: befreien Sie uns von dieser Geißel, gewähren Sie uns eine Regierungs-
form gegründet auf Gesetzlichkeit, das Bedürfniß der Zeit."

Also jetzt wie damals wendet man sich an die oberste Staatsgewalt, um
Rettung aus unseligen Zuständen zu erlangen. Aber hoffte man damals
von dem erst werdenden Herrschergeschlecht" die Sicherheit einer festen ein¬
heitlichen Regierung, so verlangt man jetzt von der "festgewurzelten rücksichts¬
losen Macht das Geschenk der Freiheit. Aber eben in dieser Form, in der
man die Freiheit erwartet, zeigt sich, daß der Despotismus seit tausend Jnhren.
von Rurik bis auf Nicolnus, gewaltig zugenommen hat an Macht und An-
sehn. -- --- Und in der That, verfolgt man den Gang der russischen Ge¬
schichte in ihren großen Zügen, so zeigt sich als Grundgesetz ihrer Entwick¬
lung die immer steigende Tendenz der Concentration aller lebendigen Ele¬
mente des Volksorganismus auf einen Punkt, die Richtung aus die "Einheit
der Gewalt" in allen Erscheinungen des Staatslebens; oder mit andern
Worten: die russische Geschichte von Anbeginn bis heute ist nichts als die
Entwicklung der Staatsgewalt zum Despotismus.

Rurik und seine Brüder mögen mit den Slaven, die sie von der Anarchie
befreit hatten, Willkürlich genug umgegangen sein: Despoten im eigentlichen
Sinn waren sie nicht. Es steht fest, daß iach germomscher Art ihre Macht¬
vollkommenheit sehr wesentlich durch ihr Heergefolge beschränkt war. Unter
ihren Nachfolgern hat dieser Brauch dann noch ziemlich lange fortbestanden,
bis er endlich mit der fortschreitenden Zersetzung des germanischen Elements,
wie sie die Mischung mit slavischem Blut zur Folge haben mußte, zur leeren
Form herabsank; denn der slavischen Weltanschauung, wie jeder asiatischen,
ist, die Jvee einer Theilung der Gewalt immer fremd gewesen. Befreiten sich
so die russischen Großfürsten schon ziemlich früh von jeder äußern Schranke
ihrer Herrscherrecktc, so stießen ihre despotischen Gelüste im Volksbewußtsein


Was ein Volk ist, welche praktische Fähigkeiten es in sich trägt, wie
weit die Staatsform, die seit Jahrhunderten ihm aufgedrückt ist, seinem Wesen
entspricht, das zeigt naturgemäß am schärfsten und klarsten der Verlauf seiner
Geschichte.

Eine Bemerkung Dolgorukow's paßt vortrefflich, uns mitten in den eigent¬
lichen Gang derselben zu führen.

„Vor tausend Jahren", so schließt der Fürst sein Buch, „schickten die
Slaven Gesandte zu Rurik und seinen Brüdern und ließen ihnen sagen:
unser Land ist groß und fruchtbar, aber es herrscht Anarchie bei uns; kommt,
befreit uns von dieser Geißel. Nach tausendjährigem Bestehn, nach Er¬
schöpfung aller Formen des Despotismus befindet sich Rußland wieder am
Rande des Abgrundes, und wir sprechen zu Alexander dem Zweiten: Majestät,
unser Land ist groß und fruchtbar, aber Willkür und Käuflichkeit herrschen
darin: befreien Sie uns von dieser Geißel, gewähren Sie uns eine Regierungs-
form gegründet auf Gesetzlichkeit, das Bedürfniß der Zeit."

Also jetzt wie damals wendet man sich an die oberste Staatsgewalt, um
Rettung aus unseligen Zuständen zu erlangen. Aber hoffte man damals
von dem erst werdenden Herrschergeschlecht« die Sicherheit einer festen ein¬
heitlichen Regierung, so verlangt man jetzt von der "festgewurzelten rücksichts¬
losen Macht das Geschenk der Freiheit. Aber eben in dieser Form, in der
man die Freiheit erwartet, zeigt sich, daß der Despotismus seit tausend Jnhren.
von Rurik bis auf Nicolnus, gewaltig zugenommen hat an Macht und An-
sehn. — -— Und in der That, verfolgt man den Gang der russischen Ge¬
schichte in ihren großen Zügen, so zeigt sich als Grundgesetz ihrer Entwick¬
lung die immer steigende Tendenz der Concentration aller lebendigen Ele¬
mente des Volksorganismus auf einen Punkt, die Richtung aus die „Einheit
der Gewalt" in allen Erscheinungen des Staatslebens; oder mit andern
Worten: die russische Geschichte von Anbeginn bis heute ist nichts als die
Entwicklung der Staatsgewalt zum Despotismus.

Rurik und seine Brüder mögen mit den Slaven, die sie von der Anarchie
befreit hatten, Willkürlich genug umgegangen sein: Despoten im eigentlichen
Sinn waren sie nicht. Es steht fest, daß iach germomscher Art ihre Macht¬
vollkommenheit sehr wesentlich durch ihr Heergefolge beschränkt war. Unter
ihren Nachfolgern hat dieser Brauch dann noch ziemlich lange fortbestanden,
bis er endlich mit der fortschreitenden Zersetzung des germanischen Elements,
wie sie die Mischung mit slavischem Blut zur Folge haben mußte, zur leeren
Form herabsank; denn der slavischen Weltanschauung, wie jeder asiatischen,
ist, die Jvee einer Theilung der Gewalt immer fremd gewesen. Befreiten sich
so die russischen Großfürsten schon ziemlich früh von jeder äußern Schranke
ihrer Herrscherrecktc, so stießen ihre despotischen Gelüste im Volksbewußtsein


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[0373] Was ein Volk ist, welche praktische Fähigkeiten es in sich trägt, wie weit die Staatsform, die seit Jahrhunderten ihm aufgedrückt ist, seinem Wesen entspricht, das zeigt naturgemäß am schärfsten und klarsten der Verlauf seiner Geschichte. Eine Bemerkung Dolgorukow's paßt vortrefflich, uns mitten in den eigent¬ lichen Gang derselben zu führen. „Vor tausend Jahren", so schließt der Fürst sein Buch, „schickten die Slaven Gesandte zu Rurik und seinen Brüdern und ließen ihnen sagen: unser Land ist groß und fruchtbar, aber es herrscht Anarchie bei uns; kommt, befreit uns von dieser Geißel. Nach tausendjährigem Bestehn, nach Er¬ schöpfung aller Formen des Despotismus befindet sich Rußland wieder am Rande des Abgrundes, und wir sprechen zu Alexander dem Zweiten: Majestät, unser Land ist groß und fruchtbar, aber Willkür und Käuflichkeit herrschen darin: befreien Sie uns von dieser Geißel, gewähren Sie uns eine Regierungs- form gegründet auf Gesetzlichkeit, das Bedürfniß der Zeit." Also jetzt wie damals wendet man sich an die oberste Staatsgewalt, um Rettung aus unseligen Zuständen zu erlangen. Aber hoffte man damals von dem erst werdenden Herrschergeschlecht« die Sicherheit einer festen ein¬ heitlichen Regierung, so verlangt man jetzt von der "festgewurzelten rücksichts¬ losen Macht das Geschenk der Freiheit. Aber eben in dieser Form, in der man die Freiheit erwartet, zeigt sich, daß der Despotismus seit tausend Jnhren. von Rurik bis auf Nicolnus, gewaltig zugenommen hat an Macht und An- sehn. — -— Und in der That, verfolgt man den Gang der russischen Ge¬ schichte in ihren großen Zügen, so zeigt sich als Grundgesetz ihrer Entwick¬ lung die immer steigende Tendenz der Concentration aller lebendigen Ele¬ mente des Volksorganismus auf einen Punkt, die Richtung aus die „Einheit der Gewalt" in allen Erscheinungen des Staatslebens; oder mit andern Worten: die russische Geschichte von Anbeginn bis heute ist nichts als die Entwicklung der Staatsgewalt zum Despotismus. Rurik und seine Brüder mögen mit den Slaven, die sie von der Anarchie befreit hatten, Willkürlich genug umgegangen sein: Despoten im eigentlichen Sinn waren sie nicht. Es steht fest, daß iach germomscher Art ihre Macht¬ vollkommenheit sehr wesentlich durch ihr Heergefolge beschränkt war. Unter ihren Nachfolgern hat dieser Brauch dann noch ziemlich lange fortbestanden, bis er endlich mit der fortschreitenden Zersetzung des germanischen Elements, wie sie die Mischung mit slavischem Blut zur Folge haben mußte, zur leeren Form herabsank; denn der slavischen Weltanschauung, wie jeder asiatischen, ist, die Jvee einer Theilung der Gewalt immer fremd gewesen. Befreiten sich so die russischen Großfürsten schon ziemlich früh von jeder äußern Schranke ihrer Herrscherrecktc, so stießen ihre despotischen Gelüste im Volksbewußtsein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/373>, abgerufen am 23.07.2024.