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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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den seines Vaterlandes vor aller Welt schonungslos bloß, findet aber zugleich
im Liberalismus das untrügliche Heilmittel. Allein seine eigene Auseinander¬
setzung erregt wider sein Wissen und Wollen die stärksten Bedenken gegen
die nothwendige Vorbedingung derselben, die Entwicklungsfähigkeit des Volkes
selbst, die ihm dabei eben gar nicht in den Sinn gekommen zu sein scheint.
Denn wie argumentire der Fürst?

Die gründliche Verderbtheit des russischen Staatswesens, sagt er. ist nicht
zu leugnen; aber wer ist schuld daran? Niemand anders als das herrschende
System. Der Absolutismus ist die giftige Wurzel alles Uebels. Dieser hat
das russische Wesen zum Gegenstand des Ekels und Abscheu's für ganz En>
ropa gemacht, Niederlage und arge Demüthigung vom Reiche nicht abwenden
können, dessen Ansehn und Macht auf lange vielleicht gefährdet, indem er
eine Bewegung heraufbeschworen, die unzweifelhaft in eine Revolution von
unberechenbaren Folgen auslaufen wird. schweren Irrthums dagegen würde
sich schuldig machen, wer etwa auch dem Volke Schuld geben wollte an der
rettungslosen Fäulnis; der Zustände, unter denen es lebt. Weiß man nicht,
daß das Volk nichts ist als willenloses passives Werkzeug in der Hand des
allmächtigen Despotismus? Wie konnte es für Zustände verantwortlich sei",
die ihm'gewaltsamer Weise aufgenöthigt worden sind, wie es gerade dem
egoistisch-gemüthlosen Interesse des "Systems" zu entsprechen schien? Nein,
das Volk ist unschuldig an diesen Gräueln. Es ist gut und kerngesund und
hat Anwartschaft auf eine große Zukunft. Man gewähre also diesem treff¬
lichen Volte eine liberale Regierungsform, und man wird über seine rasche
Entwicklung staune".

Man sieht: den Fürsten, der so gläubig-verzückt in den offenen Himmel
des Liberalismus starrt, kümmert es wenig, daß nach den Gesetzen irdischer
Logik seine Behauptungen im handgreiflichsten Widerspruch zu einander stehn.
Mit der größten Ruhe stellt er Thatsachen und Hoffnungen zusammen, die sich
absolut nicht vereinen lassen.

Die Ansicht, welche Dolgornkow vertritt, sieht im gesammten russischen
Staatsleben nur einseitige Willensäußerungen des herrschenden Systems. Uns
aber ist diese ungeheure-Concentration der Gewalt in einer Hand ein sicheres
Zeichen, daß dem Volke die Fähigkeit zu selbständiger, organischer Entwick¬
lung freier Formen entweder abhanden gekommen ist oder immer gefehlt hat.
Untersuchen wir die russischen Dinge näher, so wird sich eben der nothwen¬
dige Zusammenhang des Volksbewußtseins mit dem herrschenden System und
den Erscheinungen des öffentlichen Lebens finden, den jene Ansicht ungereim¬
ter Weise leugnet. Und wie viel oder wie wenig an der alten Phrase von
der Trefflichkeit des russische" Volks ist. das bedars endlich auch einmal des
nähern Zusehns.


den seines Vaterlandes vor aller Welt schonungslos bloß, findet aber zugleich
im Liberalismus das untrügliche Heilmittel. Allein seine eigene Auseinander¬
setzung erregt wider sein Wissen und Wollen die stärksten Bedenken gegen
die nothwendige Vorbedingung derselben, die Entwicklungsfähigkeit des Volkes
selbst, die ihm dabei eben gar nicht in den Sinn gekommen zu sein scheint.
Denn wie argumentire der Fürst?

Die gründliche Verderbtheit des russischen Staatswesens, sagt er. ist nicht
zu leugnen; aber wer ist schuld daran? Niemand anders als das herrschende
System. Der Absolutismus ist die giftige Wurzel alles Uebels. Dieser hat
das russische Wesen zum Gegenstand des Ekels und Abscheu's für ganz En>
ropa gemacht, Niederlage und arge Demüthigung vom Reiche nicht abwenden
können, dessen Ansehn und Macht auf lange vielleicht gefährdet, indem er
eine Bewegung heraufbeschworen, die unzweifelhaft in eine Revolution von
unberechenbaren Folgen auslaufen wird. schweren Irrthums dagegen würde
sich schuldig machen, wer etwa auch dem Volke Schuld geben wollte an der
rettungslosen Fäulnis; der Zustände, unter denen es lebt. Weiß man nicht,
daß das Volk nichts ist als willenloses passives Werkzeug in der Hand des
allmächtigen Despotismus? Wie konnte es für Zustände verantwortlich sei»,
die ihm'gewaltsamer Weise aufgenöthigt worden sind, wie es gerade dem
egoistisch-gemüthlosen Interesse des „Systems" zu entsprechen schien? Nein,
das Volk ist unschuldig an diesen Gräueln. Es ist gut und kerngesund und
hat Anwartschaft auf eine große Zukunft. Man gewähre also diesem treff¬
lichen Volte eine liberale Regierungsform, und man wird über seine rasche
Entwicklung staune«.

Man sieht: den Fürsten, der so gläubig-verzückt in den offenen Himmel
des Liberalismus starrt, kümmert es wenig, daß nach den Gesetzen irdischer
Logik seine Behauptungen im handgreiflichsten Widerspruch zu einander stehn.
Mit der größten Ruhe stellt er Thatsachen und Hoffnungen zusammen, die sich
absolut nicht vereinen lassen.

Die Ansicht, welche Dolgornkow vertritt, sieht im gesammten russischen
Staatsleben nur einseitige Willensäußerungen des herrschenden Systems. Uns
aber ist diese ungeheure-Concentration der Gewalt in einer Hand ein sicheres
Zeichen, daß dem Volke die Fähigkeit zu selbständiger, organischer Entwick¬
lung freier Formen entweder abhanden gekommen ist oder immer gefehlt hat.
Untersuchen wir die russischen Dinge näher, so wird sich eben der nothwen¬
dige Zusammenhang des Volksbewußtseins mit dem herrschenden System und
den Erscheinungen des öffentlichen Lebens finden, den jene Ansicht ungereim¬
ter Weise leugnet. Und wie viel oder wie wenig an der alten Phrase von
der Trefflichkeit des russische» Volks ist. das bedars endlich auch einmal des
nähern Zusehns.


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[0372] den seines Vaterlandes vor aller Welt schonungslos bloß, findet aber zugleich im Liberalismus das untrügliche Heilmittel. Allein seine eigene Auseinander¬ setzung erregt wider sein Wissen und Wollen die stärksten Bedenken gegen die nothwendige Vorbedingung derselben, die Entwicklungsfähigkeit des Volkes selbst, die ihm dabei eben gar nicht in den Sinn gekommen zu sein scheint. Denn wie argumentire der Fürst? Die gründliche Verderbtheit des russischen Staatswesens, sagt er. ist nicht zu leugnen; aber wer ist schuld daran? Niemand anders als das herrschende System. Der Absolutismus ist die giftige Wurzel alles Uebels. Dieser hat das russische Wesen zum Gegenstand des Ekels und Abscheu's für ganz En> ropa gemacht, Niederlage und arge Demüthigung vom Reiche nicht abwenden können, dessen Ansehn und Macht auf lange vielleicht gefährdet, indem er eine Bewegung heraufbeschworen, die unzweifelhaft in eine Revolution von unberechenbaren Folgen auslaufen wird. schweren Irrthums dagegen würde sich schuldig machen, wer etwa auch dem Volke Schuld geben wollte an der rettungslosen Fäulnis; der Zustände, unter denen es lebt. Weiß man nicht, daß das Volk nichts ist als willenloses passives Werkzeug in der Hand des allmächtigen Despotismus? Wie konnte es für Zustände verantwortlich sei», die ihm'gewaltsamer Weise aufgenöthigt worden sind, wie es gerade dem egoistisch-gemüthlosen Interesse des „Systems" zu entsprechen schien? Nein, das Volk ist unschuldig an diesen Gräueln. Es ist gut und kerngesund und hat Anwartschaft auf eine große Zukunft. Man gewähre also diesem treff¬ lichen Volte eine liberale Regierungsform, und man wird über seine rasche Entwicklung staune«. Man sieht: den Fürsten, der so gläubig-verzückt in den offenen Himmel des Liberalismus starrt, kümmert es wenig, daß nach den Gesetzen irdischer Logik seine Behauptungen im handgreiflichsten Widerspruch zu einander stehn. Mit der größten Ruhe stellt er Thatsachen und Hoffnungen zusammen, die sich absolut nicht vereinen lassen. Die Ansicht, welche Dolgornkow vertritt, sieht im gesammten russischen Staatsleben nur einseitige Willensäußerungen des herrschenden Systems. Uns aber ist diese ungeheure-Concentration der Gewalt in einer Hand ein sicheres Zeichen, daß dem Volke die Fähigkeit zu selbständiger, organischer Entwick¬ lung freier Formen entweder abhanden gekommen ist oder immer gefehlt hat. Untersuchen wir die russischen Dinge näher, so wird sich eben der nothwen¬ dige Zusammenhang des Volksbewußtseins mit dem herrschenden System und den Erscheinungen des öffentlichen Lebens finden, den jene Ansicht ungereim¬ ter Weise leugnet. Und wie viel oder wie wenig an der alten Phrase von der Trefflichkeit des russische» Volks ist. das bedars endlich auch einmal des nähern Zusehns.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/372>, abgerufen am 29.12.2024.