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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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wehrlos dem Verschlagnen gegenüber; tugendhaft, aber von einer Tugend
laut, rauschend, wohltönend wie seine schöne Stimme; voll Empfindsamkeit,
voll Begier, das Gute zu thun, aber so. daß tausend Zeitungen die Kunde
davon durch die ganze Welt trage", tausend Inschriften. Wappen und Denk"
münzen die Vergeßlichsten und Gleichgiltigsten daran erinnern müssen.
Wechselnd in Urtheilen und Entschlüssen, je nach dem Stande des Wetters,
dem Zuge der Wolken, dem Aussehen des Himmels, dem Fibriren der Ner¬
ven und Blutgefäße, nach dem pathologischen Zustande eines siechen Körpers
erleidet sein moralischer Mensch alle Einflüsse eines kranken Organismus.
Bei aller seiner Sanftmuth und Herzensgüte ist man Niemals gesichert vor
einem verletzenden Worte, einem plötzlichen Ausbruch von Jähzorn oder sonst
einem wenig rücksichtsvollen und liebreichen Thun."

"Diese Fehler", fährt unser Charakterzeichner fort, "sind keine Laster.
Sie sind der Dunst und Staub, von dem sich die arme Menschheit, so voll¬
kommen sie sem. so hoch sie stehen mag. nicht läutern und befreien kann.
In der Hand ehrlicher und gewandter Minister könnten sie selbst zu Tuge"-
den werden und als Same zu edeln Thaten dienen. Allein er ist ein Opfer
der Arglistigen geworden, die aus ihm ein Spiel widerstrebender und stets
schlechter Begierden gemacht haben. Pius der Neunte war fünfzehn Jahre
hindurch der Spielball elender Menschen jeder Art, jedes Landes, jeder
Partei und Seele. die sich unaufhörlich abmühten, einander seine Gewo¬
genheit zu stehlen, um sie ins Gemeine zuziehen und unter die Füße zu
treten."

Liverani meint in diesen Zügen Benedict den Dreizehnter wiederzuer¬
kennen. Andere haben eine auffallende Aehnlichkeit mit Ludwig dem Sech¬
zehnten herausfinden wollen, noch Andere werden sich durch diese Zeichnung
vielfach an einen gekrönten Herrn errinnert sehen, der unsrer Zeit und unserem
Lande noch näher stand. Auch wir halten den letzteren Vergleich nicht für
ganz unangemessen, statt aber hier ausführlicher auf ihn einzugehen, wollen
wir bemerken, daß uns noch ein anderes Königsbild einfällt. Goldene Adern,
silberne Adenr, kupferne und andre Adern von geringem Metall, wenig Halt,
wenig Widerstandskraft, kein einheitlicher Charakter und darum äußeren Ein¬
flüssen preisgeben -- es ist der aus allerlei Erz zusammengesetzte König im
Goethescher Märchen, und nach dem Vorigen fehlt auch die große Schlange
nicht, die ihm zuletzt das Gold aus den Adern und Gebeinen leckt. Von
dem Vergleich des französische" Prälaten zwischen Christus und seinem Stell¬
vertreter bleibt wenig mehr übrig, als die Wirkung der Keckheit, die ihn
eingab.

Oder hätte Liverani zu dunkle Farben gebraucht? Vergleichen wir sein
Porträt mit der Biographie Mastai Ferretti's, die Karl Grün in seinem neu-


wehrlos dem Verschlagnen gegenüber; tugendhaft, aber von einer Tugend
laut, rauschend, wohltönend wie seine schöne Stimme; voll Empfindsamkeit,
voll Begier, das Gute zu thun, aber so. daß tausend Zeitungen die Kunde
davon durch die ganze Welt trage», tausend Inschriften. Wappen und Denk«
münzen die Vergeßlichsten und Gleichgiltigsten daran erinnern müssen.
Wechselnd in Urtheilen und Entschlüssen, je nach dem Stande des Wetters,
dem Zuge der Wolken, dem Aussehen des Himmels, dem Fibriren der Ner¬
ven und Blutgefäße, nach dem pathologischen Zustande eines siechen Körpers
erleidet sein moralischer Mensch alle Einflüsse eines kranken Organismus.
Bei aller seiner Sanftmuth und Herzensgüte ist man Niemals gesichert vor
einem verletzenden Worte, einem plötzlichen Ausbruch von Jähzorn oder sonst
einem wenig rücksichtsvollen und liebreichen Thun."

„Diese Fehler", fährt unser Charakterzeichner fort, „sind keine Laster.
Sie sind der Dunst und Staub, von dem sich die arme Menschheit, so voll¬
kommen sie sem. so hoch sie stehen mag. nicht läutern und befreien kann.
In der Hand ehrlicher und gewandter Minister könnten sie selbst zu Tuge»-
den werden und als Same zu edeln Thaten dienen. Allein er ist ein Opfer
der Arglistigen geworden, die aus ihm ein Spiel widerstrebender und stets
schlechter Begierden gemacht haben. Pius der Neunte war fünfzehn Jahre
hindurch der Spielball elender Menschen jeder Art, jedes Landes, jeder
Partei und Seele. die sich unaufhörlich abmühten, einander seine Gewo¬
genheit zu stehlen, um sie ins Gemeine zuziehen und unter die Füße zu
treten."

Liverani meint in diesen Zügen Benedict den Dreizehnter wiederzuer¬
kennen. Andere haben eine auffallende Aehnlichkeit mit Ludwig dem Sech¬
zehnten herausfinden wollen, noch Andere werden sich durch diese Zeichnung
vielfach an einen gekrönten Herrn errinnert sehen, der unsrer Zeit und unserem
Lande noch näher stand. Auch wir halten den letzteren Vergleich nicht für
ganz unangemessen, statt aber hier ausführlicher auf ihn einzugehen, wollen
wir bemerken, daß uns noch ein anderes Königsbild einfällt. Goldene Adern,
silberne Adenr, kupferne und andre Adern von geringem Metall, wenig Halt,
wenig Widerstandskraft, kein einheitlicher Charakter und darum äußeren Ein¬
flüssen preisgeben — es ist der aus allerlei Erz zusammengesetzte König im
Goethescher Märchen, und nach dem Vorigen fehlt auch die große Schlange
nicht, die ihm zuletzt das Gold aus den Adern und Gebeinen leckt. Von
dem Vergleich des französische» Prälaten zwischen Christus und seinem Stell¬
vertreter bleibt wenig mehr übrig, als die Wirkung der Keckheit, die ihn
eingab.

Oder hätte Liverani zu dunkle Farben gebraucht? Vergleichen wir sein
Porträt mit der Biographie Mastai Ferretti's, die Karl Grün in seinem neu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/351>, abgerufen am 23.07.2024.