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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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ist. stets unterdrückt zu werden, macht es sich in wilden Zuckungen Luft und
überspringt das Ziel, bei welchem es im ruhigen Entwickelungsgange Halt
gemacht haben würde. So geschah es in Italien, und ein Glück war es un¬
ter diesen Umständen, daß Sardinien stark genug war, sich des aufs Höchste
gespannten nationalen Gedankens zu bemächtigen und das Land vor den
äußersten Konsequenzen einer Alles verschlingenden und vernichtenden Revo¬
lution zu bewahren. Die Durchführung der Idee des Bundesstaates war
1848 gescheitert; die nationalen Bedürfnisse blieben unbefriedigt. Ließ sich er¬
warten, daß die nächste Erhebung der Nation sich geringere Ziele stecken
würde? Man war überzeugt von der Unmöglichkeit der Konföderation, weil
man wußte, daß die Regierungen derselben den äußersten Widerstand entgegen¬
setzen würden. Wider den Willen der Regierungen war aber jede Form der
nationalen Einigung eher zu erreichen, als die Föderation. So steigerte der
Widerstand, den die nationalen Bestrebungen fanden, dieselben bis zur Idee
des Einheitsstaates. Es handelte sich gar nicht mehr um die Frage: ob Kon¬
föderation oder Einheitsstaat? sondern ob demokratische Republik oder con-
stitutionelle Monarchie, ob Mazzini oder Victor Emanuel und Cavour? In
dieser Lage konnte Victor Emanuel nicht zweifelhaft sein über die zu treffende
Entscheidung, wenn wir auch ohne Bedenken zugeben, daß die energischen
Leiter der sardinischen Politik mit geheimem Entzücken an eine Alternative tra¬
ten, die ihnen nur die Wahl ließ zwischen Vernichtung und der vollen Be¬
friedigung ihrer ehrgeizigsten Wünsche. Dessenungeachtet beklagen wir mit
Guizot den Gang, den die Begebenheiten genommen haben, halten es aber
auch für unzweifelhaft, daß das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden
kann, ohne die Nation dem furchtbarsten Abgrunde zuzuführen und zugleich
den Frieden Europa's auf das Bedrohlichste zu gefährden. Denn nothwendiger
Weise würde eine Niederlage Sardiniens in der neapolitanischen und ein
Scheitern desselben in der römischen Frage auch die bisher scheinbar sicher ge¬
wonnenen Resultate rückgängig machen. Italien würde von Neuem der Kampf¬
platz für die herrschsüchtigen Pläne Oestreichs und Frankreichs werden, und
dem Mazzinismus bliebe es vorbehalten, das Werk zu versuchen, welches die
Monarchie nicht hat vollenden können. Es ist klar, daß eine solche Wendung
der Dinge (und sie kann unter den angegebenen Umständen gar nicht aus¬
bleiben) einen ganz unberechenbaren Einfluß auf die Consolidirung nicht blos
der italienischen, sondern der europäischen Demokratie ausüben würde. Die
Mittelpartei würde, ihrer Waffen beraubt, vom Kampfplatze verschwinden, und
die unheilvolle Konstellation, die aus dem Kampfe der Extreme hervorgehen
muß, wäre unvermeidlich: während doch die europäische Staatskunst mit aller
Kraft dahin arbeiten muß, nicht diesen Kampf hinauszuschieben (denn damit
ist wenig gewonnen), sondern überall solche Zustände herbeizuführen, die


ist. stets unterdrückt zu werden, macht es sich in wilden Zuckungen Luft und
überspringt das Ziel, bei welchem es im ruhigen Entwickelungsgange Halt
gemacht haben würde. So geschah es in Italien, und ein Glück war es un¬
ter diesen Umständen, daß Sardinien stark genug war, sich des aufs Höchste
gespannten nationalen Gedankens zu bemächtigen und das Land vor den
äußersten Konsequenzen einer Alles verschlingenden und vernichtenden Revo¬
lution zu bewahren. Die Durchführung der Idee des Bundesstaates war
1848 gescheitert; die nationalen Bedürfnisse blieben unbefriedigt. Ließ sich er¬
warten, daß die nächste Erhebung der Nation sich geringere Ziele stecken
würde? Man war überzeugt von der Unmöglichkeit der Konföderation, weil
man wußte, daß die Regierungen derselben den äußersten Widerstand entgegen¬
setzen würden. Wider den Willen der Regierungen war aber jede Form der
nationalen Einigung eher zu erreichen, als die Föderation. So steigerte der
Widerstand, den die nationalen Bestrebungen fanden, dieselben bis zur Idee
des Einheitsstaates. Es handelte sich gar nicht mehr um die Frage: ob Kon¬
föderation oder Einheitsstaat? sondern ob demokratische Republik oder con-
stitutionelle Monarchie, ob Mazzini oder Victor Emanuel und Cavour? In
dieser Lage konnte Victor Emanuel nicht zweifelhaft sein über die zu treffende
Entscheidung, wenn wir auch ohne Bedenken zugeben, daß die energischen
Leiter der sardinischen Politik mit geheimem Entzücken an eine Alternative tra¬
ten, die ihnen nur die Wahl ließ zwischen Vernichtung und der vollen Be¬
friedigung ihrer ehrgeizigsten Wünsche. Dessenungeachtet beklagen wir mit
Guizot den Gang, den die Begebenheiten genommen haben, halten es aber
auch für unzweifelhaft, daß das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden
kann, ohne die Nation dem furchtbarsten Abgrunde zuzuführen und zugleich
den Frieden Europa's auf das Bedrohlichste zu gefährden. Denn nothwendiger
Weise würde eine Niederlage Sardiniens in der neapolitanischen und ein
Scheitern desselben in der römischen Frage auch die bisher scheinbar sicher ge¬
wonnenen Resultate rückgängig machen. Italien würde von Neuem der Kampf¬
platz für die herrschsüchtigen Pläne Oestreichs und Frankreichs werden, und
dem Mazzinismus bliebe es vorbehalten, das Werk zu versuchen, welches die
Monarchie nicht hat vollenden können. Es ist klar, daß eine solche Wendung
der Dinge (und sie kann unter den angegebenen Umständen gar nicht aus¬
bleiben) einen ganz unberechenbaren Einfluß auf die Consolidirung nicht blos
der italienischen, sondern der europäischen Demokratie ausüben würde. Die
Mittelpartei würde, ihrer Waffen beraubt, vom Kampfplatze verschwinden, und
die unheilvolle Konstellation, die aus dem Kampfe der Extreme hervorgehen
muß, wäre unvermeidlich: während doch die europäische Staatskunst mit aller
Kraft dahin arbeiten muß, nicht diesen Kampf hinauszuschieben (denn damit
ist wenig gewonnen), sondern überall solche Zustände herbeizuführen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/318>, abgerufen am 23.07.2024.