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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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vertriebenen Fürsten eins ihre Throne? War das Verfahren gegen Oestreich
vielleicht dadurch legnlisirt, dah dasselbe die Thorheit begangen hat, durch
einen übereilten Angriff Piemont die Verantwortlichkeit für die militärische
Initiative abzunehmen? oder hat Frankreich den gegen Oestreich gerichteten
Bestrebungen Sardiniens mit seinem Schutze zugleich die völkerrechtliche Sanc¬
tion ertheilt? Wenn Guizot mit einer gewissen Befriedigung auf die Befrei"
ung der Lombardei blickt, so kann er, ohne sich einer Inconsequenz schuldig
zu machen, die späteren Annexionen, die allerdings nicht mehr in Frankreichs
Interesse tagen, nicht wegen ihres völkerrechtswidrigen Charakters verdammen.
Die Unzufriedenen der Lombardei haben in Frankreich, die Unzufriedenen der
kleinen Staaten und Neapels in Sardinien einen Beschützer gesunden. Be¬
gründet dies völkerrechtlich einen wesentlichen Unterschied?

Aber eure einheitliche Gestaltung Italiens widerspricht nach Guizot auch
den geographischen Verhältnissen und der geschichtlichen Entwickelung; die einzige
der Natur der Dinge entsprechende politische Gestaltung ist die Konföderation.
Nun sind wir weit entfernt, den Gang, den die italienischen Angelegenheiten
bisher genommen haben, als einen ganz glücklichen, der Nachahmung würdigen
bezeichnen zu wollen. Die Masse ungleichartiger, nach Bildung und Tra¬
ditionen verschiedener, zum Theil roher, zum Theil verfeinerter, aber energie¬
loser Elemente, die sich um den politisch reisen, lebenskräftigen Kern gelegt
hat. droht diesen durch ihre ungefüge Last zu ersticken; besonders der Gegen¬
satz zwischen Norditalien und Neapel, der schroffer ist, als irgend eine Stam-
mesverschiedenheit in Deutschland, kann nur durch die Anwendung, der ener¬
gischsten Maßregeln, in Verbindung mit der rücksichtsvollsten Besonnenheit,
überwunden werden. Ein Menschenalter kann darüber vergehen, ehe die Zu¬
ckungen der Revolution, die an der Einigung mitgearbeitet hat. sich beruhigen,
ehe geordnete, feste Zustände an Stelle des für die nächste Zeit unvermeid¬
lichen Hin- und Herschwankens zwischen Anarchie und militärischem Despotis¬
mus treten können. Es ist unzweifelhaft, daß sich Wege erdenken lassen, auf
denen das Ziel einer nationalen Consolidirung sich sicherer, maßvoller und mit
einer größeren Schonung berechtigter Eigenthümlichkeiten Hütte erreichen las¬
sen, als auf dem Wege, auf welchen der Drang der Umstände nicht minder,
als der eigne Wille Sardinien geleitet hat. Der Drang der Umstände, sagen
wir; denn "die revolutionären Bewegungen in den andern Staaten Italiens
ließen Sardinien nur die Wahl. Ambos oder Hammer zu sein. Gewiß hat mensch¬
liche Willkür in den italienischen Angelegenheiten ein verwegenes Spiel ge-
spielt. Aber sie wäre schwach und erfolglos gewesen, wenn sie nicht durch
das Gewicht zwingender und unwiderstehlicher Verhältnisse unterstützt wor¬
den wäre. Es ist ein Gesetz der Weltordnung, dem die italienischen Dy¬
nastjen verfallen sind: wo ein berechtigtes Streben unterdrückt wird und sicher


vertriebenen Fürsten eins ihre Throne? War das Verfahren gegen Oestreich
vielleicht dadurch legnlisirt, dah dasselbe die Thorheit begangen hat, durch
einen übereilten Angriff Piemont die Verantwortlichkeit für die militärische
Initiative abzunehmen? oder hat Frankreich den gegen Oestreich gerichteten
Bestrebungen Sardiniens mit seinem Schutze zugleich die völkerrechtliche Sanc¬
tion ertheilt? Wenn Guizot mit einer gewissen Befriedigung auf die Befrei«
ung der Lombardei blickt, so kann er, ohne sich einer Inconsequenz schuldig
zu machen, die späteren Annexionen, die allerdings nicht mehr in Frankreichs
Interesse tagen, nicht wegen ihres völkerrechtswidrigen Charakters verdammen.
Die Unzufriedenen der Lombardei haben in Frankreich, die Unzufriedenen der
kleinen Staaten und Neapels in Sardinien einen Beschützer gesunden. Be¬
gründet dies völkerrechtlich einen wesentlichen Unterschied?

Aber eure einheitliche Gestaltung Italiens widerspricht nach Guizot auch
den geographischen Verhältnissen und der geschichtlichen Entwickelung; die einzige
der Natur der Dinge entsprechende politische Gestaltung ist die Konföderation.
Nun sind wir weit entfernt, den Gang, den die italienischen Angelegenheiten
bisher genommen haben, als einen ganz glücklichen, der Nachahmung würdigen
bezeichnen zu wollen. Die Masse ungleichartiger, nach Bildung und Tra¬
ditionen verschiedener, zum Theil roher, zum Theil verfeinerter, aber energie¬
loser Elemente, die sich um den politisch reisen, lebenskräftigen Kern gelegt
hat. droht diesen durch ihre ungefüge Last zu ersticken; besonders der Gegen¬
satz zwischen Norditalien und Neapel, der schroffer ist, als irgend eine Stam-
mesverschiedenheit in Deutschland, kann nur durch die Anwendung, der ener¬
gischsten Maßregeln, in Verbindung mit der rücksichtsvollsten Besonnenheit,
überwunden werden. Ein Menschenalter kann darüber vergehen, ehe die Zu¬
ckungen der Revolution, die an der Einigung mitgearbeitet hat. sich beruhigen,
ehe geordnete, feste Zustände an Stelle des für die nächste Zeit unvermeid¬
lichen Hin- und Herschwankens zwischen Anarchie und militärischem Despotis¬
mus treten können. Es ist unzweifelhaft, daß sich Wege erdenken lassen, auf
denen das Ziel einer nationalen Consolidirung sich sicherer, maßvoller und mit
einer größeren Schonung berechtigter Eigenthümlichkeiten Hütte erreichen las¬
sen, als auf dem Wege, auf welchen der Drang der Umstände nicht minder,
als der eigne Wille Sardinien geleitet hat. Der Drang der Umstände, sagen
wir; denn „die revolutionären Bewegungen in den andern Staaten Italiens
ließen Sardinien nur die Wahl. Ambos oder Hammer zu sein. Gewiß hat mensch¬
liche Willkür in den italienischen Angelegenheiten ein verwegenes Spiel ge-
spielt. Aber sie wäre schwach und erfolglos gewesen, wenn sie nicht durch
das Gewicht zwingender und unwiderstehlicher Verhältnisse unterstützt wor¬
den wäre. Es ist ein Gesetz der Weltordnung, dem die italienischen Dy¬
nastjen verfallen sind: wo ein berechtigtes Streben unterdrückt wird und sicher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/317>, abgerufen am 23.07.2024.