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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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jetzt russische Popen in den Straßen ihren Segen austheilen oder plärrende
Wallfahrer das Kreuz tragen, in denen die Zuhörer von Immanuel Kant zu
dem Hörsal des großen Denkers eilten; er will, daß in den Palästen der
deutschen Kaufleute zu Danzig die Leibeigenen eines russischen Generals ihre
Hemden reinigen, polnische Juden mit Ohrlocke und Kaftan die Sabbathlichter
anstecken; er will, daß der Blick des Reisenden, der aus den Fenstern des
Schlosses von Marienburg jetzt auf die starken Dämme deutscher Kolonisten
und das hochcultivirte Uferland der Weichsel blickt, sich von einem trostlosen
Sumpfe abwenden soll, aus dessen Rohr in den Novembernächten der heisere
Schrei des hungrigen Wolfes gehört wird.

Aber die späteren Erwerbungen Preußens in Polen sind auch von Sol¬
chen, welche die erste als eine Nothwendigkeit gelten ließen, getadelt worden.
Ans den Vorwurf der Unmoralität haben wir, das spätere Geschlecht, nicht
mehr zu antworten. Es war keine Hcldenarbeit, wie die Eroberung und
Behauptung Schlesiens, aber sie war unvermeidlich, und wir haben nichts da¬
gegen, wenn sie eine traurige Nothwendigkeit genannt wird. Auch ist möglich,
daß bei diesen Theilungen nicht immer mit dem wünschenswerthen Anstand,
der Ruhe und Humanität verfahren wurde, welche sich in solchem Fall geziemt.
Wir würden jetzt, wenn wir dieselbe Frage zu lösen hätten, hoffentlich ge¬
fülliger und zarter anfassen, aber nehmen würden wir das herrenlose Land
ebenfalls, wir, die Preußen von 1861, und mit größerem Recht, als unsere Väter
damals hatten. Allerdings bereiteten die letzten Theilungen Polens dem preußi¬
schen Staat eine große Gefahr. Aber die politischen Gesichtspunkte, von denen
Preußen den Erwerb suchte, waren doch an sich durchaus richtig. Abgesehen
davon, daß es eine Pflicht der Selbsterhaltung war, die Vergrößerung Rußlands
und Oestreichs soviel als möglich zu beschränken, machte auch Behauptung
und Vertheidigung von Berlin und der deutschen Ostseeküste eine Begrenzung,
welche nach Osten die Vcrtheidigungslinie möglichst weit hinaus schob, so
wünschenswerth, daß es eine unverzeihliche Thorheit gewesen wäre, die dar-
gebotene Gelegenheit aus Zartgefühl nicht zu benützen. Zumal Preußen
durchaus nicht im Stande war, das Leben Polens zu coaserviren. Aber der
Erwerb von Süd- und Neu-Ostpreußen bis zum Memel, zum Bug und der
Pilika, so vortheilhaft er in militärischer Hinsicht werden konnte, war deshalb
ein mißlicher Gewinn, weil die Kraft des Staates nicht groß genug war, das
weitläufige Terrain von zusammen 1700 Quadratmeilen*) in deutsche Provin¬
zen umzubilden. Wieviel Preußen auch in den wenigen Jahren seines Be-



Südpreußen 933 Quadratmeilen
Ncupreußcn (mit Vialystok) 773
Neuschlcsien 41
überhaupt 1772 Quadratmeilen
*)

jetzt russische Popen in den Straßen ihren Segen austheilen oder plärrende
Wallfahrer das Kreuz tragen, in denen die Zuhörer von Immanuel Kant zu
dem Hörsal des großen Denkers eilten; er will, daß in den Palästen der
deutschen Kaufleute zu Danzig die Leibeigenen eines russischen Generals ihre
Hemden reinigen, polnische Juden mit Ohrlocke und Kaftan die Sabbathlichter
anstecken; er will, daß der Blick des Reisenden, der aus den Fenstern des
Schlosses von Marienburg jetzt auf die starken Dämme deutscher Kolonisten
und das hochcultivirte Uferland der Weichsel blickt, sich von einem trostlosen
Sumpfe abwenden soll, aus dessen Rohr in den Novembernächten der heisere
Schrei des hungrigen Wolfes gehört wird.

Aber die späteren Erwerbungen Preußens in Polen sind auch von Sol¬
chen, welche die erste als eine Nothwendigkeit gelten ließen, getadelt worden.
Ans den Vorwurf der Unmoralität haben wir, das spätere Geschlecht, nicht
mehr zu antworten. Es war keine Hcldenarbeit, wie die Eroberung und
Behauptung Schlesiens, aber sie war unvermeidlich, und wir haben nichts da¬
gegen, wenn sie eine traurige Nothwendigkeit genannt wird. Auch ist möglich,
daß bei diesen Theilungen nicht immer mit dem wünschenswerthen Anstand,
der Ruhe und Humanität verfahren wurde, welche sich in solchem Fall geziemt.
Wir würden jetzt, wenn wir dieselbe Frage zu lösen hätten, hoffentlich ge¬
fülliger und zarter anfassen, aber nehmen würden wir das herrenlose Land
ebenfalls, wir, die Preußen von 1861, und mit größerem Recht, als unsere Väter
damals hatten. Allerdings bereiteten die letzten Theilungen Polens dem preußi¬
schen Staat eine große Gefahr. Aber die politischen Gesichtspunkte, von denen
Preußen den Erwerb suchte, waren doch an sich durchaus richtig. Abgesehen
davon, daß es eine Pflicht der Selbsterhaltung war, die Vergrößerung Rußlands
und Oestreichs soviel als möglich zu beschränken, machte auch Behauptung
und Vertheidigung von Berlin und der deutschen Ostseeküste eine Begrenzung,
welche nach Osten die Vcrtheidigungslinie möglichst weit hinaus schob, so
wünschenswerth, daß es eine unverzeihliche Thorheit gewesen wäre, die dar-
gebotene Gelegenheit aus Zartgefühl nicht zu benützen. Zumal Preußen
durchaus nicht im Stande war, das Leben Polens zu coaserviren. Aber der
Erwerb von Süd- und Neu-Ostpreußen bis zum Memel, zum Bug und der
Pilika, so vortheilhaft er in militärischer Hinsicht werden konnte, war deshalb
ein mißlicher Gewinn, weil die Kraft des Staates nicht groß genug war, das
weitläufige Terrain von zusammen 1700 Quadratmeilen*) in deutsche Provin¬
zen umzubilden. Wieviel Preußen auch in den wenigen Jahren seines Be-



Südpreußen 933 Quadratmeilen
Ncupreußcn (mit Vialystok) 773
Neuschlcsien 41
überhaupt 1772 Quadratmeilen
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[0096] jetzt russische Popen in den Straßen ihren Segen austheilen oder plärrende Wallfahrer das Kreuz tragen, in denen die Zuhörer von Immanuel Kant zu dem Hörsal des großen Denkers eilten; er will, daß in den Palästen der deutschen Kaufleute zu Danzig die Leibeigenen eines russischen Generals ihre Hemden reinigen, polnische Juden mit Ohrlocke und Kaftan die Sabbathlichter anstecken; er will, daß der Blick des Reisenden, der aus den Fenstern des Schlosses von Marienburg jetzt auf die starken Dämme deutscher Kolonisten und das hochcultivirte Uferland der Weichsel blickt, sich von einem trostlosen Sumpfe abwenden soll, aus dessen Rohr in den Novembernächten der heisere Schrei des hungrigen Wolfes gehört wird. Aber die späteren Erwerbungen Preußens in Polen sind auch von Sol¬ chen, welche die erste als eine Nothwendigkeit gelten ließen, getadelt worden. Ans den Vorwurf der Unmoralität haben wir, das spätere Geschlecht, nicht mehr zu antworten. Es war keine Hcldenarbeit, wie die Eroberung und Behauptung Schlesiens, aber sie war unvermeidlich, und wir haben nichts da¬ gegen, wenn sie eine traurige Nothwendigkeit genannt wird. Auch ist möglich, daß bei diesen Theilungen nicht immer mit dem wünschenswerthen Anstand, der Ruhe und Humanität verfahren wurde, welche sich in solchem Fall geziemt. Wir würden jetzt, wenn wir dieselbe Frage zu lösen hätten, hoffentlich ge¬ fülliger und zarter anfassen, aber nehmen würden wir das herrenlose Land ebenfalls, wir, die Preußen von 1861, und mit größerem Recht, als unsere Väter damals hatten. Allerdings bereiteten die letzten Theilungen Polens dem preußi¬ schen Staat eine große Gefahr. Aber die politischen Gesichtspunkte, von denen Preußen den Erwerb suchte, waren doch an sich durchaus richtig. Abgesehen davon, daß es eine Pflicht der Selbsterhaltung war, die Vergrößerung Rußlands und Oestreichs soviel als möglich zu beschränken, machte auch Behauptung und Vertheidigung von Berlin und der deutschen Ostseeküste eine Begrenzung, welche nach Osten die Vcrtheidigungslinie möglichst weit hinaus schob, so wünschenswerth, daß es eine unverzeihliche Thorheit gewesen wäre, die dar- gebotene Gelegenheit aus Zartgefühl nicht zu benützen. Zumal Preußen durchaus nicht im Stande war, das Leben Polens zu coaserviren. Aber der Erwerb von Süd- und Neu-Ostpreußen bis zum Memel, zum Bug und der Pilika, so vortheilhaft er in militärischer Hinsicht werden konnte, war deshalb ein mißlicher Gewinn, weil die Kraft des Staates nicht groß genug war, das weitläufige Terrain von zusammen 1700 Quadratmeilen*) in deutsche Provin¬ zen umzubilden. Wieviel Preußen auch in den wenigen Jahren seines Be- Südpreußen 933 Quadratmeilen Ncupreußcn (mit Vialystok) 773 Neuschlcsien 41 überhaupt 1772 Quadratmeilen *)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/96>, abgerufen am 29.12.2024.