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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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/'i-In einer ästhetisch gestimmten Zeit hätte wohl Ingres eine Anregung
gefunden, die auf seine nur langsam und schwer arbeitende Phantasie von
belebendem Einfluß gewesen wäre. Es lag in seiner künstlerischen Natur jede
Gestalt zu der höchsten Formenschönheit und doch zum vollen Fluß des Lebens
ganz herauszubilden, und da ihm hierin ebensowenig die Kunst, als die Wirk¬
lichkeit seiner Zeit entgegenkam, so war er lediglich auf sich selbst und die
Alten angewiesen. Gleichmäßig bestrebt, der vollendeten Form Wirklichkeit
zu geben, und diese ganz in die Form zu erheben, erreichte er vollständig das
Ziel, das ihm vorschwebte, nur in einer Gattung der Malerei: im Portrait.
Insofern ist das bekannte Portrait Berlins (vom Jahre 1833) durch die Auf¬
fassung sowol als die Behandlung sein Meisterwerk. Es ist von der ein¬
dringlichsten Wirkung: der Charakter der Individualität ist in wirklich großem
Sinne ganz zur Erscheinung herausgebildet, während Form und Modellirung
nicht vollendeter das Leben in wahrhaft künstlerischer, eben so wahrer als
idealer Anschauung wiedergeben können. Von fast gleicher Vortrefflichkeit ist
das Bildniß des Grasen Molo. Aber wie übel dem Meister sein abstractes
Ideal bisweilen auch auf diesem Felde mitspielte, zeigt das Bild, auf welchem
Cherubim, ganz in der Bestimmtheit des wirklichen Lebens aufgefaßt, unter
dem Schutz der Muse sich darstellt. Die Seltsamkeit dieser allegorischen Spie¬
lerei ist geradezu abstoßend (auch die Apotheose Napoleons im Hotel de Ville
ist eine frostige Allegorie).

Selbst in seiner besten Zeit war die Anerkennung Ingres' in Frankreich
nicht unbestrittene Im Salon von 1834 hatte sein Symphorian mit der
Johanna Gray! von Delaroche um die Palme zu ringen; es entstand ein
förmlicher Kampf der beiden Parteien, die Masse des Publicums erkannte nicht
ihm, sondern Delaroche den Preis zu. Dieser halte durch Ausdruck und Farbe
das Gemüth unmittelbar zu bewegen verstanden. Ingres war verbittert; es
war ihm erwünscht, Frankreich verlassen und als Director der Akademie nach
Rom gehen zu können. Selbst seine Productionskraft schien für längere Zeit
gelähmt/
''"''i'

Aber er ließ eine große Schule zurück, die sich streng nach ihm gebildet
hatte, und wie sehr auch seine Anschauung von der Gegenwart und ihren
Neigungen sich abwendete, so war doch sein Einfluß auf die Malerei über¬
haupt von weittragender Bedeutung. Seine Einwirkung erstreckte sich aus alle,
denen es mit der ächten Kunst Ernst war, selbst aus Meister, die einen andern
Weg eingeschlagen hatten. Man sah seinen Werken an, wie seine Production
immer von dem Gedanken an die hohe Würde und Strenge der Kunst geleitet
war. Er verachtete geradezu die Künstler, denen es besonders auf blendende


Grenzten IV. 1S61, 10

/'i-In einer ästhetisch gestimmten Zeit hätte wohl Ingres eine Anregung
gefunden, die auf seine nur langsam und schwer arbeitende Phantasie von
belebendem Einfluß gewesen wäre. Es lag in seiner künstlerischen Natur jede
Gestalt zu der höchsten Formenschönheit und doch zum vollen Fluß des Lebens
ganz herauszubilden, und da ihm hierin ebensowenig die Kunst, als die Wirk¬
lichkeit seiner Zeit entgegenkam, so war er lediglich auf sich selbst und die
Alten angewiesen. Gleichmäßig bestrebt, der vollendeten Form Wirklichkeit
zu geben, und diese ganz in die Form zu erheben, erreichte er vollständig das
Ziel, das ihm vorschwebte, nur in einer Gattung der Malerei: im Portrait.
Insofern ist das bekannte Portrait Berlins (vom Jahre 1833) durch die Auf¬
fassung sowol als die Behandlung sein Meisterwerk. Es ist von der ein¬
dringlichsten Wirkung: der Charakter der Individualität ist in wirklich großem
Sinne ganz zur Erscheinung herausgebildet, während Form und Modellirung
nicht vollendeter das Leben in wahrhaft künstlerischer, eben so wahrer als
idealer Anschauung wiedergeben können. Von fast gleicher Vortrefflichkeit ist
das Bildniß des Grasen Molo. Aber wie übel dem Meister sein abstractes
Ideal bisweilen auch auf diesem Felde mitspielte, zeigt das Bild, auf welchem
Cherubim, ganz in der Bestimmtheit des wirklichen Lebens aufgefaßt, unter
dem Schutz der Muse sich darstellt. Die Seltsamkeit dieser allegorischen Spie¬
lerei ist geradezu abstoßend (auch die Apotheose Napoleons im Hotel de Ville
ist eine frostige Allegorie).

Selbst in seiner besten Zeit war die Anerkennung Ingres' in Frankreich
nicht unbestrittene Im Salon von 1834 hatte sein Symphorian mit der
Johanna Gray! von Delaroche um die Palme zu ringen; es entstand ein
förmlicher Kampf der beiden Parteien, die Masse des Publicums erkannte nicht
ihm, sondern Delaroche den Preis zu. Dieser halte durch Ausdruck und Farbe
das Gemüth unmittelbar zu bewegen verstanden. Ingres war verbittert; es
war ihm erwünscht, Frankreich verlassen und als Director der Akademie nach
Rom gehen zu können. Selbst seine Productionskraft schien für längere Zeit
gelähmt/
''"''i'

Aber er ließ eine große Schule zurück, die sich streng nach ihm gebildet
hatte, und wie sehr auch seine Anschauung von der Gegenwart und ihren
Neigungen sich abwendete, so war doch sein Einfluß auf die Malerei über¬
haupt von weittragender Bedeutung. Seine Einwirkung erstreckte sich aus alle,
denen es mit der ächten Kunst Ernst war, selbst aus Meister, die einen andern
Weg eingeschlagen hatten. Man sah seinen Werken an, wie seine Production
immer von dem Gedanken an die hohe Würde und Strenge der Kunst geleitet
war. Er verachtete geradezu die Künstler, denen es besonders auf blendende


Grenzten IV. 1S61, 10
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[0083] /'i-In einer ästhetisch gestimmten Zeit hätte wohl Ingres eine Anregung gefunden, die auf seine nur langsam und schwer arbeitende Phantasie von belebendem Einfluß gewesen wäre. Es lag in seiner künstlerischen Natur jede Gestalt zu der höchsten Formenschönheit und doch zum vollen Fluß des Lebens ganz herauszubilden, und da ihm hierin ebensowenig die Kunst, als die Wirk¬ lichkeit seiner Zeit entgegenkam, so war er lediglich auf sich selbst und die Alten angewiesen. Gleichmäßig bestrebt, der vollendeten Form Wirklichkeit zu geben, und diese ganz in die Form zu erheben, erreichte er vollständig das Ziel, das ihm vorschwebte, nur in einer Gattung der Malerei: im Portrait. Insofern ist das bekannte Portrait Berlins (vom Jahre 1833) durch die Auf¬ fassung sowol als die Behandlung sein Meisterwerk. Es ist von der ein¬ dringlichsten Wirkung: der Charakter der Individualität ist in wirklich großem Sinne ganz zur Erscheinung herausgebildet, während Form und Modellirung nicht vollendeter das Leben in wahrhaft künstlerischer, eben so wahrer als idealer Anschauung wiedergeben können. Von fast gleicher Vortrefflichkeit ist das Bildniß des Grasen Molo. Aber wie übel dem Meister sein abstractes Ideal bisweilen auch auf diesem Felde mitspielte, zeigt das Bild, auf welchem Cherubim, ganz in der Bestimmtheit des wirklichen Lebens aufgefaßt, unter dem Schutz der Muse sich darstellt. Die Seltsamkeit dieser allegorischen Spie¬ lerei ist geradezu abstoßend (auch die Apotheose Napoleons im Hotel de Ville ist eine frostige Allegorie). Selbst in seiner besten Zeit war die Anerkennung Ingres' in Frankreich nicht unbestrittene Im Salon von 1834 hatte sein Symphorian mit der Johanna Gray! von Delaroche um die Palme zu ringen; es entstand ein förmlicher Kampf der beiden Parteien, die Masse des Publicums erkannte nicht ihm, sondern Delaroche den Preis zu. Dieser halte durch Ausdruck und Farbe das Gemüth unmittelbar zu bewegen verstanden. Ingres war verbittert; es war ihm erwünscht, Frankreich verlassen und als Director der Akademie nach Rom gehen zu können. Selbst seine Productionskraft schien für längere Zeit gelähmt/ ''"''i' Aber er ließ eine große Schule zurück, die sich streng nach ihm gebildet hatte, und wie sehr auch seine Anschauung von der Gegenwart und ihren Neigungen sich abwendete, so war doch sein Einfluß auf die Malerei über¬ haupt von weittragender Bedeutung. Seine Einwirkung erstreckte sich aus alle, denen es mit der ächten Kunst Ernst war, selbst aus Meister, die einen andern Weg eingeschlagen hatten. Man sah seinen Werken an, wie seine Production immer von dem Gedanken an die hohe Würde und Strenge der Kunst geleitet war. Er verachtete geradezu die Künstler, denen es besonders auf blendende Grenzten IV. 1S61, 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/83>, abgerufen am 23.07.2024.