Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

rige Erdenstellung, die voll von Versuchungen und Gefahren war, mit ruhiger
Würde und männlicher Weisheit behauptet. -- Wir Deutsche aber denken
?. sein mit Selbstgefühl ud warmer Empfindung.




Berliner Briefe.

Der Ausfall der Wahlen ist noch fortwährend das Thema, mit welchem sich
hier die politische Reflexion beschäftigt. Zunächst mußte man sich die Veränderungen,
welche in der Stärke der einzelnen Parteien eingetreten waren, vergegenwärtigen.
Soweit sich diese Zahlenverhältnisse schon vor nickt Tagen übersehen ließen, haben
wir dieselben angegeben. Eine schließliche Zusammenstellung der Wahlergebnisse zeigt
uns folgendes Resultat: Die altliberale oder constitutionelle Partei wird zwischen
150 und 100 Stimmen zählen; der Fortschrittspartei gehören etwa 100, den
Ultramontanen zwischen 50 und 60, den Polen 23 und den Feudalen 15 Stim¬
men. Etwas Schwankendes wird bis zum Zusammentritt der Kammer diesen An¬
gaben immer anhaften, weil namentlich die Grenze zwischen den Altliberalcn und
der Fortschrittspartei sich nicht mit vollkommener Sicherheit ziehen läßt. Indeß der
allgemeine Charakter der Kammer ist bereits unverkennbar. Die Altliberalen bilden
die zahlreichste Partei, aber für sich allein können sie nicht über die Majorität ge¬
bieten. Sie sind also darauf angewiesen, sich mit einer anderen Fraction zu ver¬
ständigen. Naturgemäß kann dies nur die Fortschrittspartei sein. Denn mit den
Polen oder Ultramontanen ist kein Mndniß zu schließen; die Feudalen aber
können schon ihrer geringen Zahl wegen nicht in Betracht kommen, auch wenn ein
eine Verständigung mit ihnen zu denken wäre. Aus dieser Sachlage ergibt sich,
daß der Schwerpunkt der Kammer bedeutend nach links verschoben ist. Auch die
altliberale Partei selbst, obgleich sie zum großen Theil wieder aus Mitgliedern der
Fraction Vincke besteht, hat doch eine Veränderung erfahren, welche ihr einen un¬
abhängigeren Charakter gegeben hat. Die Fraction Vincke, welche die Hauptstütze
des liberalen Ministeriums bildete, war natürlich liberal und ministeriell zu gleicher
Zeit. Aber bei den einzelnen Mitgliedern der Fraction waren diese Eigenschaften
verschieden accentuirt. Ein Theil war aus Liberalismus ministeriell; ein anderer
Theil war aus Ministcrialismus liberal. Die Ersteren unterstützen das Ministerium
aus freier und unabhängiger Ueberzeugung; aber eben deshalb gibt es für sie eine
Grenze, über welche hinaus sie dem Ministerium nicht folgen würden. Auf die
Letzteren kann das Ministerium ziemlich unbedingt rechnen; aber ihre Unterstützung
ist nur von geringem Werth, weil sie bei einem etwaigen Wechsel des Ministeriums


rige Erdenstellung, die voll von Versuchungen und Gefahren war, mit ruhiger
Würde und männlicher Weisheit behauptet. — Wir Deutsche aber denken
?. sein mit Selbstgefühl ud warmer Empfindung.




Berliner Briefe.

Der Ausfall der Wahlen ist noch fortwährend das Thema, mit welchem sich
hier die politische Reflexion beschäftigt. Zunächst mußte man sich die Veränderungen,
welche in der Stärke der einzelnen Parteien eingetreten waren, vergegenwärtigen.
Soweit sich diese Zahlenverhältnisse schon vor nickt Tagen übersehen ließen, haben
wir dieselben angegeben. Eine schließliche Zusammenstellung der Wahlergebnisse zeigt
uns folgendes Resultat: Die altliberale oder constitutionelle Partei wird zwischen
150 und 100 Stimmen zählen; der Fortschrittspartei gehören etwa 100, den
Ultramontanen zwischen 50 und 60, den Polen 23 und den Feudalen 15 Stim¬
men. Etwas Schwankendes wird bis zum Zusammentritt der Kammer diesen An¬
gaben immer anhaften, weil namentlich die Grenze zwischen den Altliberalcn und
der Fortschrittspartei sich nicht mit vollkommener Sicherheit ziehen läßt. Indeß der
allgemeine Charakter der Kammer ist bereits unverkennbar. Die Altliberalen bilden
die zahlreichste Partei, aber für sich allein können sie nicht über die Majorität ge¬
bieten. Sie sind also darauf angewiesen, sich mit einer anderen Fraction zu ver¬
ständigen. Naturgemäß kann dies nur die Fortschrittspartei sein. Denn mit den
Polen oder Ultramontanen ist kein Mndniß zu schließen; die Feudalen aber
können schon ihrer geringen Zahl wegen nicht in Betracht kommen, auch wenn ein
eine Verständigung mit ihnen zu denken wäre. Aus dieser Sachlage ergibt sich,
daß der Schwerpunkt der Kammer bedeutend nach links verschoben ist. Auch die
altliberale Partei selbst, obgleich sie zum großen Theil wieder aus Mitgliedern der
Fraction Vincke besteht, hat doch eine Veränderung erfahren, welche ihr einen un¬
abhängigeren Charakter gegeben hat. Die Fraction Vincke, welche die Hauptstütze
des liberalen Ministeriums bildete, war natürlich liberal und ministeriell zu gleicher
Zeit. Aber bei den einzelnen Mitgliedern der Fraction waren diese Eigenschaften
verschieden accentuirt. Ein Theil war aus Liberalismus ministeriell; ein anderer
Theil war aus Ministcrialismus liberal. Die Ersteren unterstützen das Ministerium
aus freier und unabhängiger Ueberzeugung; aber eben deshalb gibt es für sie eine
Grenze, über welche hinaus sie dem Ministerium nicht folgen würden. Auf die
Letzteren kann das Ministerium ziemlich unbedingt rechnen; aber ihre Unterstützung
ist nur von geringem Werth, weil sie bei einem etwaigen Wechsel des Ministeriums


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113029"/>
          <p xml:id="ID_1637" prev="#ID_1636"> rige Erdenstellung, die voll von Versuchungen und Gefahren war, mit ruhiger<lb/>
Würde und männlicher Weisheit behauptet. &#x2014; Wir Deutsche aber denken<lb/><note type="byline"> ?.</note> sein mit Selbstgefühl ud warmer Empfindung. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Berliner Briefe.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1638" next="#ID_1639"> Der Ausfall der Wahlen ist noch fortwährend das Thema, mit welchem sich<lb/>
hier die politische Reflexion beschäftigt. Zunächst mußte man sich die Veränderungen,<lb/>
welche in der Stärke der einzelnen Parteien eingetreten waren, vergegenwärtigen.<lb/>
Soweit sich diese Zahlenverhältnisse schon vor nickt Tagen übersehen ließen, haben<lb/>
wir dieselben angegeben. Eine schließliche Zusammenstellung der Wahlergebnisse zeigt<lb/>
uns folgendes Resultat: Die altliberale oder constitutionelle Partei wird zwischen<lb/>
150 und 100 Stimmen zählen; der Fortschrittspartei gehören etwa 100, den<lb/>
Ultramontanen zwischen 50 und 60, den Polen 23 und den Feudalen 15 Stim¬<lb/>
men. Etwas Schwankendes wird bis zum Zusammentritt der Kammer diesen An¬<lb/>
gaben immer anhaften, weil namentlich die Grenze zwischen den Altliberalcn und<lb/>
der Fortschrittspartei sich nicht mit vollkommener Sicherheit ziehen läßt. Indeß der<lb/>
allgemeine Charakter der Kammer ist bereits unverkennbar. Die Altliberalen bilden<lb/>
die zahlreichste Partei, aber für sich allein können sie nicht über die Majorität ge¬<lb/>
bieten. Sie sind also darauf angewiesen, sich mit einer anderen Fraction zu ver¬<lb/>
ständigen. Naturgemäß kann dies nur die Fortschrittspartei sein. Denn mit den<lb/>
Polen oder Ultramontanen ist kein Mndniß zu schließen; die Feudalen aber<lb/>
können schon ihrer geringen Zahl wegen nicht in Betracht kommen, auch wenn ein<lb/>
eine Verständigung mit ihnen zu denken wäre. Aus dieser Sachlage ergibt sich,<lb/>
daß der Schwerpunkt der Kammer bedeutend nach links verschoben ist. Auch die<lb/>
altliberale Partei selbst, obgleich sie zum großen Theil wieder aus Mitgliedern der<lb/>
Fraction Vincke besteht, hat doch eine Veränderung erfahren, welche ihr einen un¬<lb/>
abhängigeren Charakter gegeben hat. Die Fraction Vincke, welche die Hauptstütze<lb/>
des liberalen Ministeriums bildete, war natürlich liberal und ministeriell zu gleicher<lb/>
Zeit. Aber bei den einzelnen Mitgliedern der Fraction waren diese Eigenschaften<lb/>
verschieden accentuirt. Ein Theil war aus Liberalismus ministeriell; ein anderer<lb/>
Theil war aus Ministcrialismus liberal. Die Ersteren unterstützen das Ministerium<lb/>
aus freier und unabhängiger Ueberzeugung; aber eben deshalb gibt es für sie eine<lb/>
Grenze, über welche hinaus sie dem Ministerium nicht folgen würden. Auf die<lb/>
Letzteren kann das Ministerium ziemlich unbedingt rechnen; aber ihre Unterstützung<lb/>
ist nur von geringem Werth, weil sie bei einem etwaigen Wechsel des Ministeriums</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0521] rige Erdenstellung, die voll von Versuchungen und Gefahren war, mit ruhiger Würde und männlicher Weisheit behauptet. — Wir Deutsche aber denken ?. sein mit Selbstgefühl ud warmer Empfindung. Berliner Briefe. Der Ausfall der Wahlen ist noch fortwährend das Thema, mit welchem sich hier die politische Reflexion beschäftigt. Zunächst mußte man sich die Veränderungen, welche in der Stärke der einzelnen Parteien eingetreten waren, vergegenwärtigen. Soweit sich diese Zahlenverhältnisse schon vor nickt Tagen übersehen ließen, haben wir dieselben angegeben. Eine schließliche Zusammenstellung der Wahlergebnisse zeigt uns folgendes Resultat: Die altliberale oder constitutionelle Partei wird zwischen 150 und 100 Stimmen zählen; der Fortschrittspartei gehören etwa 100, den Ultramontanen zwischen 50 und 60, den Polen 23 und den Feudalen 15 Stim¬ men. Etwas Schwankendes wird bis zum Zusammentritt der Kammer diesen An¬ gaben immer anhaften, weil namentlich die Grenze zwischen den Altliberalcn und der Fortschrittspartei sich nicht mit vollkommener Sicherheit ziehen läßt. Indeß der allgemeine Charakter der Kammer ist bereits unverkennbar. Die Altliberalen bilden die zahlreichste Partei, aber für sich allein können sie nicht über die Majorität ge¬ bieten. Sie sind also darauf angewiesen, sich mit einer anderen Fraction zu ver¬ ständigen. Naturgemäß kann dies nur die Fortschrittspartei sein. Denn mit den Polen oder Ultramontanen ist kein Mndniß zu schließen; die Feudalen aber können schon ihrer geringen Zahl wegen nicht in Betracht kommen, auch wenn ein eine Verständigung mit ihnen zu denken wäre. Aus dieser Sachlage ergibt sich, daß der Schwerpunkt der Kammer bedeutend nach links verschoben ist. Auch die altliberale Partei selbst, obgleich sie zum großen Theil wieder aus Mitgliedern der Fraction Vincke besteht, hat doch eine Veränderung erfahren, welche ihr einen un¬ abhängigeren Charakter gegeben hat. Die Fraction Vincke, welche die Hauptstütze des liberalen Ministeriums bildete, war natürlich liberal und ministeriell zu gleicher Zeit. Aber bei den einzelnen Mitgliedern der Fraction waren diese Eigenschaften verschieden accentuirt. Ein Theil war aus Liberalismus ministeriell; ein anderer Theil war aus Ministcrialismus liberal. Die Ersteren unterstützen das Ministerium aus freier und unabhängiger Ueberzeugung; aber eben deshalb gibt es für sie eine Grenze, über welche hinaus sie dem Ministerium nicht folgen würden. Auf die Letzteren kann das Ministerium ziemlich unbedingt rechnen; aber ihre Unterstützung ist nur von geringem Werth, weil sie bei einem etwaigen Wechsel des Ministeriums

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/521
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/521>, abgerufen am 27.12.2024.