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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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die große Kette von Leiden, die wir die Geschichte nennen. Im Lauf der¬
selben sind Weise aufgetreten, die den Grund des Uebels erkannten und den
Rückweg zu dem paradiesischen Austerlcben entdeckten. Ich erinnere an die
Buddhisten, denen es gelang, ein Drittel der Menschheit zu Adams Selig¬
keit zurückzuführen, an die indischen Philosophen, die sich gewohnten, Jahre
lang auf die Nasenspitze blickend, nur das Wort Om -- vermuthlich Auster
-- zu denken. Ich könnte noch näher Liegendes anführen, will indeß aus
mehren Gründen absehn. da ich hoffen darf, daß Sie mir jetzt wenigstens
insofern beipflichten werden, daß die Auster mit ihrer Einfalt ohne Wunsch
und Furcht nicht nur nicht unglücklich, sondern sogar Muster und Vorbild für den
der echten vollen Seligkeit zustrebenden Menschen ist. Und damit komme ich
auf meine frühere Lehre zurück: Essen wir Austern, damit wir werden wie
die Austern!"

Solcherlei redete er noch Vieles zum Lobe seines Gegenstandes, und
wenn es ihm nicht gelang, mich von der Wahrheit des zuletzt ausgesprochenen
höchsten Grundsatzes seiner Philosophie zu überzeugen (die er beiläufig mit
neuer Anwendung eines alten Wortes Ostracismus nannte), wenn Manches
Orphische. was ihm zwischen der dritten und vierten Flasche entfloß, nament¬
lich das, was er von einer transmundanen Urauster vorbrachte, über die er
in den Schriften eines berühmten chinesischen Dogmatikers gelesen, und die
zur mundanen Auster geworden, um sich von den Menschen essen und sie da¬
durch zu Austern werden zu lassen -- wenn, sage ich. Manches der Art mir
unverständlich blieb, so fand ich in seinem Vortrag doch auch vieles Verstän¬
dige. Anregende und weiterer Verbreitung Werthe, und so gebe ich im fol¬
genden eine Blumenlese tap.on. die namentlich den Disciplinen entnommen
ist. die er als die Ethik, die Geschichte und die Naturkunde des
Ostracismus zu bezeichnen pflegte. Einiges davon wurde von mir in
Gesellschaft wißbegieriger Freunde auf praktischem Wege erprobt und kann
deshalb mit voller Ueberzeugung empfohlen werden.

Aus dem ethischen Gebiete hebe ich nur einige von den Hauptgcboten
hervor. Wer den Grad eines gerechten und vollkommenen Austernesscrs ver¬
dienen will, muß sich zunächst gewöhnen, sie zu rechter Zeit zu essen, das
heißt in den Monaten, in deren Namen ein R ist. Er darf serner nicht zu¬
viel davon genießen. Er hat sodann die Getränke zu beachten, welche die
Erfahrung als die zur Begleitung des Austerngenusses geeignetsten empfiehlt.
Endlich wird er in der Ueberzeugung, daß die Auster als ein Wesen, welches
gerade durch seine Einfalt vollkommen ist. alle Künste des Kochs verschmä¬
hend, sie. die "Trüffel des Meeres" einfach so verzehren, wie Mutter Na¬
tur sie darbietet.

In Betreff des zuerst ausgestellten Gebotes höre ich die Stimme der


die große Kette von Leiden, die wir die Geschichte nennen. Im Lauf der¬
selben sind Weise aufgetreten, die den Grund des Uebels erkannten und den
Rückweg zu dem paradiesischen Austerlcben entdeckten. Ich erinnere an die
Buddhisten, denen es gelang, ein Drittel der Menschheit zu Adams Selig¬
keit zurückzuführen, an die indischen Philosophen, die sich gewohnten, Jahre
lang auf die Nasenspitze blickend, nur das Wort Om — vermuthlich Auster
-- zu denken. Ich könnte noch näher Liegendes anführen, will indeß aus
mehren Gründen absehn. da ich hoffen darf, daß Sie mir jetzt wenigstens
insofern beipflichten werden, daß die Auster mit ihrer Einfalt ohne Wunsch
und Furcht nicht nur nicht unglücklich, sondern sogar Muster und Vorbild für den
der echten vollen Seligkeit zustrebenden Menschen ist. Und damit komme ich
auf meine frühere Lehre zurück: Essen wir Austern, damit wir werden wie
die Austern!"

Solcherlei redete er noch Vieles zum Lobe seines Gegenstandes, und
wenn es ihm nicht gelang, mich von der Wahrheit des zuletzt ausgesprochenen
höchsten Grundsatzes seiner Philosophie zu überzeugen (die er beiläufig mit
neuer Anwendung eines alten Wortes Ostracismus nannte), wenn Manches
Orphische. was ihm zwischen der dritten und vierten Flasche entfloß, nament¬
lich das, was er von einer transmundanen Urauster vorbrachte, über die er
in den Schriften eines berühmten chinesischen Dogmatikers gelesen, und die
zur mundanen Auster geworden, um sich von den Menschen essen und sie da¬
durch zu Austern werden zu lassen — wenn, sage ich. Manches der Art mir
unverständlich blieb, so fand ich in seinem Vortrag doch auch vieles Verstän¬
dige. Anregende und weiterer Verbreitung Werthe, und so gebe ich im fol¬
genden eine Blumenlese tap.on. die namentlich den Disciplinen entnommen
ist. die er als die Ethik, die Geschichte und die Naturkunde des
Ostracismus zu bezeichnen pflegte. Einiges davon wurde von mir in
Gesellschaft wißbegieriger Freunde auf praktischem Wege erprobt und kann
deshalb mit voller Ueberzeugung empfohlen werden.

Aus dem ethischen Gebiete hebe ich nur einige von den Hauptgcboten
hervor. Wer den Grad eines gerechten und vollkommenen Austernesscrs ver¬
dienen will, muß sich zunächst gewöhnen, sie zu rechter Zeit zu essen, das
heißt in den Monaten, in deren Namen ein R ist. Er darf serner nicht zu¬
viel davon genießen. Er hat sodann die Getränke zu beachten, welche die
Erfahrung als die zur Begleitung des Austerngenusses geeignetsten empfiehlt.
Endlich wird er in der Ueberzeugung, daß die Auster als ein Wesen, welches
gerade durch seine Einfalt vollkommen ist. alle Künste des Kochs verschmä¬
hend, sie. die „Trüffel des Meeres" einfach so verzehren, wie Mutter Na¬
tur sie darbietet.

In Betreff des zuerst ausgestellten Gebotes höre ich die Stimme der


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[0426] die große Kette von Leiden, die wir die Geschichte nennen. Im Lauf der¬ selben sind Weise aufgetreten, die den Grund des Uebels erkannten und den Rückweg zu dem paradiesischen Austerlcben entdeckten. Ich erinnere an die Buddhisten, denen es gelang, ein Drittel der Menschheit zu Adams Selig¬ keit zurückzuführen, an die indischen Philosophen, die sich gewohnten, Jahre lang auf die Nasenspitze blickend, nur das Wort Om — vermuthlich Auster -- zu denken. Ich könnte noch näher Liegendes anführen, will indeß aus mehren Gründen absehn. da ich hoffen darf, daß Sie mir jetzt wenigstens insofern beipflichten werden, daß die Auster mit ihrer Einfalt ohne Wunsch und Furcht nicht nur nicht unglücklich, sondern sogar Muster und Vorbild für den der echten vollen Seligkeit zustrebenden Menschen ist. Und damit komme ich auf meine frühere Lehre zurück: Essen wir Austern, damit wir werden wie die Austern!" Solcherlei redete er noch Vieles zum Lobe seines Gegenstandes, und wenn es ihm nicht gelang, mich von der Wahrheit des zuletzt ausgesprochenen höchsten Grundsatzes seiner Philosophie zu überzeugen (die er beiläufig mit neuer Anwendung eines alten Wortes Ostracismus nannte), wenn Manches Orphische. was ihm zwischen der dritten und vierten Flasche entfloß, nament¬ lich das, was er von einer transmundanen Urauster vorbrachte, über die er in den Schriften eines berühmten chinesischen Dogmatikers gelesen, und die zur mundanen Auster geworden, um sich von den Menschen essen und sie da¬ durch zu Austern werden zu lassen — wenn, sage ich. Manches der Art mir unverständlich blieb, so fand ich in seinem Vortrag doch auch vieles Verstän¬ dige. Anregende und weiterer Verbreitung Werthe, und so gebe ich im fol¬ genden eine Blumenlese tap.on. die namentlich den Disciplinen entnommen ist. die er als die Ethik, die Geschichte und die Naturkunde des Ostracismus zu bezeichnen pflegte. Einiges davon wurde von mir in Gesellschaft wißbegieriger Freunde auf praktischem Wege erprobt und kann deshalb mit voller Ueberzeugung empfohlen werden. Aus dem ethischen Gebiete hebe ich nur einige von den Hauptgcboten hervor. Wer den Grad eines gerechten und vollkommenen Austernesscrs ver¬ dienen will, muß sich zunächst gewöhnen, sie zu rechter Zeit zu essen, das heißt in den Monaten, in deren Namen ein R ist. Er darf serner nicht zu¬ viel davon genießen. Er hat sodann die Getränke zu beachten, welche die Erfahrung als die zur Begleitung des Austerngenusses geeignetsten empfiehlt. Endlich wird er in der Ueberzeugung, daß die Auster als ein Wesen, welches gerade durch seine Einfalt vollkommen ist. alle Künste des Kochs verschmä¬ hend, sie. die „Trüffel des Meeres" einfach so verzehren, wie Mutter Na¬ tur sie darbietet. In Betreff des zuerst ausgestellten Gebotes höre ich die Stimme der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/426>, abgerufen am 23.07.2024.