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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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werden konnte, als dadurch, daß man ihn auf Reisen schickte, an die ge-
schichtliche Wahrheit, daß erst mit dem Seßhaftwerden der Menschheit die Cul¬
tur begann, an die psychologische Wahrheit, daß -- ich nenne nur den Baron
von Münchhausen. könnte aber auch aus neuester Zeit betrübende Beispiele
anführen -- je weiter Einer gereist ist, desto größer seine Virtuosität im Lügen
ist, an die ethnologische Wahrheit endlich, daß eine gewisse, bei unsern Mi¬
nistern sehr wohl angeschriebne und wirklich sehr bequeme und nahrhafte
Sorte von Vaterlandsliebe durch Verbleiben innerhalb des Gesichtskreises des
heimathlichen Kirchthurms am besten conservirt wird. Betrachten Sie den
Patriotismus der biedern Altbaiern, und Sie werden ohne Mühe entdecken,
daß er rein deshalb so glühend ist, weil diese patriarchalische Völkerschaft
sprichwörtlich von allen Teutonen am wenigsten Neigung zum Reisen empfindet.
Vor Allem aber sehen Sie sich die Sonne an, die seit Josua oder, wie an¬
dere Geschichtskundige behaupten wollen, seit Galilei feststeht und sich wohl
dabei befindet. So aber werden Sie mir erlauben, wenn ich die allerdings
nickt zu leugnende Thatsache, daß die Auster den Ort ihrer Geburt nicht ver¬
lassen kann, weit mehr als einen Vorzug, wie als einen Fehler auffasse. Es
trägt dies sehr wesentlich zur Erhaltung ihrer Gemüthsruhe und, wie ich hin¬
zufügen möchte, ihres Wohlgeschmacks bei; denn Vergleichung erhitzt zu
Stolz und Verdruß, und Erhitzung verbittert. Eins unserer besten Sprich¬
wörter ist: bleibe im Lande und nähre dich redlich. Die Auster ist dessen
anmuthigste Verkörperung. Ahnen wir ihr auch darin nach."

Das vierte Dutzend machte eine Pause, während deren mich die beiden
hellblauen Austern unter seiner Glatze forschend betrachteten.

"Sie wollen nicht?" sagte er, die letzte Schale hinlegend, als er sah.
daß ich den Kopf schüttelte. "Sie halten meine Freundin wegen ihrer noth-
gedrungenen Seßhaftigkeit für unvollkommen. Sie beklagen oder belächeln
ihre Blindheit, bedauern oder bespöttelt noch immer ihren Mangel an Ver¬
stand, ihren schwachen Willen. Wohlan denn, Sie Hartnäckigster, ich lasse
alle meine Beweise mit Ausnahme derer, welche die Auster den an Leiden¬
schaftlichkeit und schlechtem Magen Laborirenden empfehlen, fallen, stelle mich
auf die Seite der Ungläubigen oder, wenn Sie wollen, Gläubigen und spiele
den letzten Trumpf aus. den ich mir beiläufig neulich unter den Brocken auflas,
die vom Tisch eines geistlichen Herrn fielen.

Gesetzt den Fall, daß die undankbare Welt Recht hätte, wenn sie die
Auster einfältig schilt, wissen Sie wohl, daß diese selbe Einfalt, diese ihre
kindliche Unberührtheit. diese ihre intellectuelle Jungfrauschaft, wie ichs nennen
möchte, gerade ihr höchstes Lob. ihr erhabenster Vorzug sein würde? Wissen
Sie, daß die Wissenschaft umkehren muß. und daß die Consequenz dieser sub¬
limen Regel, das letzte Ziel derselben die Einkehr in das urthümliche Leben


werden konnte, als dadurch, daß man ihn auf Reisen schickte, an die ge-
schichtliche Wahrheit, daß erst mit dem Seßhaftwerden der Menschheit die Cul¬
tur begann, an die psychologische Wahrheit, daß — ich nenne nur den Baron
von Münchhausen. könnte aber auch aus neuester Zeit betrübende Beispiele
anführen — je weiter Einer gereist ist, desto größer seine Virtuosität im Lügen
ist, an die ethnologische Wahrheit endlich, daß eine gewisse, bei unsern Mi¬
nistern sehr wohl angeschriebne und wirklich sehr bequeme und nahrhafte
Sorte von Vaterlandsliebe durch Verbleiben innerhalb des Gesichtskreises des
heimathlichen Kirchthurms am besten conservirt wird. Betrachten Sie den
Patriotismus der biedern Altbaiern, und Sie werden ohne Mühe entdecken,
daß er rein deshalb so glühend ist, weil diese patriarchalische Völkerschaft
sprichwörtlich von allen Teutonen am wenigsten Neigung zum Reisen empfindet.
Vor Allem aber sehen Sie sich die Sonne an, die seit Josua oder, wie an¬
dere Geschichtskundige behaupten wollen, seit Galilei feststeht und sich wohl
dabei befindet. So aber werden Sie mir erlauben, wenn ich die allerdings
nickt zu leugnende Thatsache, daß die Auster den Ort ihrer Geburt nicht ver¬
lassen kann, weit mehr als einen Vorzug, wie als einen Fehler auffasse. Es
trägt dies sehr wesentlich zur Erhaltung ihrer Gemüthsruhe und, wie ich hin¬
zufügen möchte, ihres Wohlgeschmacks bei; denn Vergleichung erhitzt zu
Stolz und Verdruß, und Erhitzung verbittert. Eins unserer besten Sprich¬
wörter ist: bleibe im Lande und nähre dich redlich. Die Auster ist dessen
anmuthigste Verkörperung. Ahnen wir ihr auch darin nach."

Das vierte Dutzend machte eine Pause, während deren mich die beiden
hellblauen Austern unter seiner Glatze forschend betrachteten.

„Sie wollen nicht?" sagte er, die letzte Schale hinlegend, als er sah.
daß ich den Kopf schüttelte. „Sie halten meine Freundin wegen ihrer noth-
gedrungenen Seßhaftigkeit für unvollkommen. Sie beklagen oder belächeln
ihre Blindheit, bedauern oder bespöttelt noch immer ihren Mangel an Ver¬
stand, ihren schwachen Willen. Wohlan denn, Sie Hartnäckigster, ich lasse
alle meine Beweise mit Ausnahme derer, welche die Auster den an Leiden¬
schaftlichkeit und schlechtem Magen Laborirenden empfehlen, fallen, stelle mich
auf die Seite der Ungläubigen oder, wenn Sie wollen, Gläubigen und spiele
den letzten Trumpf aus. den ich mir beiläufig neulich unter den Brocken auflas,
die vom Tisch eines geistlichen Herrn fielen.

Gesetzt den Fall, daß die undankbare Welt Recht hätte, wenn sie die
Auster einfältig schilt, wissen Sie wohl, daß diese selbe Einfalt, diese ihre
kindliche Unberührtheit. diese ihre intellectuelle Jungfrauschaft, wie ichs nennen
möchte, gerade ihr höchstes Lob. ihr erhabenster Vorzug sein würde? Wissen
Sie, daß die Wissenschaft umkehren muß. und daß die Consequenz dieser sub¬
limen Regel, das letzte Ziel derselben die Einkehr in das urthümliche Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/424>, abgerufen am 23.07.2024.