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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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lichen Wäldern gehegt worden, im Gegentheil, das geschah nirgends und
niemals; sie wurden vielmehr gehegt am hellen Tage bei scheinender Sonne
an den allbekannten Malstättcn (d. h. Gerichtsplätzen), zu denen der Zutritt
im sogenannten "offenen Ding" (Gericht) niemals verwehrt war. Diese
Plätze, die man mit besonderem Namen "Freistühle" nannte, lagen stets unter
freiem Himmel, meist unter Bäumen, einer Linde. Eiche, einem Hagedorn,
Birnbaum u, s. w.. oft dicht bei Städten. Dörfern. Burgen, ja zuweilen
mitten in ihnen. So lag, um nur Einzelnes zu erwähnen, der Freistuhl von
Dortmund dicht an der Stadtmauer unter einer Linde, die noch heute in ihrer
verwitterten Gestalt mitten zwischen den Schienensträngen des jetzigen Bahn¬
hofs steht, der Freistuhl von Arnsberg unmittelbar unter der dortigen Burg
im Baumgarten, der von Soest nahe dem Thore in den jetzigen Gemüse¬
gärten, der von Wünnenberg zwischen den Thoren, und so fast überall; da
konnte also von einer Verborgenheit keine Rede sein.

Ebenso wenig wie die Stätte des Gerichts waren auch die Richter, die
sogenannten Freischöffen unbekannt; in ihrer engern Heimath kannte vielmehr
sie Jedermann, und außerhalb derselben durften sie sich offen rühmen Freischöffen
zu sein, da dieses, wenigstens in der Zeit der Blüthe der Fehme, im ganzen
Reiche der beste Sicherheitspaß war; den'n nun vergriff sich nicht leicht Einer
an ihnen, weil man die Rache scheuen mußte. Als im 15, Jahrhundert die
Fehme ihre Wirksamkeit über ganz Deutschland ausdehnte, ließen sich Männer
aus allen Gegenden des Reiches unter die Freischöffen aufnehmen oder wur¬
den, wie es hieß, "wissend". Es wird behauptet, daß um die Zeit als Kaiser
Sigismund am Freistuhl zu Dortmund wissend gemacht war. eine große
Menge deutscher Fürsten und Herren und anderer Freien, zusammen an
100,000 Männer, Freischöffen gewesen seien, und das mag nicht übertrieben
sein, wenn wir bedenken, daß bei einzelnen wichtigen Fehmprocessen an
einem einzigen Freistuhl zuweilen viele hundert bis tausend Freischöffen
versammelt waren, wie z. B. bei der Verfehmung des Herzogs Heinrich von
Baiern im Jahr 1429. Jeder Deutsche, der frei geboren und unbescholten
war, konnte Freischöffe werden, wenn sich wenigstens zwei Freischöffen für ihn
verbürgten.

Die Aufnahme konnte nur auf rother Erde an einem Freistuhl geschehen
und zwar mit genauer Beobachtung der vorgeschriebenen Formalitäten: Zwei
oder mehr Freischöffen traten vor den auf seinem Stuhle sitzenden Freigrafen
und baten um die Erlaubniß, den unwissenden Mann in die heimliche Acht
bringen zu dürfen; zugleich verbürgten sie sich für seine Freiheit und Unbe¬
scholtenheit. Dann wurde derselbe ins Gericht geführt; mit entblößtem Haupte
kniete er vor dem Freigrafen nieder, vor dem auf einem Tisch zwei gekreuzte
Schwerter und ein Strick lagen; auf diese legte nun jeder seine Hand und


lichen Wäldern gehegt worden, im Gegentheil, das geschah nirgends und
niemals; sie wurden vielmehr gehegt am hellen Tage bei scheinender Sonne
an den allbekannten Malstättcn (d. h. Gerichtsplätzen), zu denen der Zutritt
im sogenannten „offenen Ding" (Gericht) niemals verwehrt war. Diese
Plätze, die man mit besonderem Namen „Freistühle" nannte, lagen stets unter
freiem Himmel, meist unter Bäumen, einer Linde. Eiche, einem Hagedorn,
Birnbaum u, s. w.. oft dicht bei Städten. Dörfern. Burgen, ja zuweilen
mitten in ihnen. So lag, um nur Einzelnes zu erwähnen, der Freistuhl von
Dortmund dicht an der Stadtmauer unter einer Linde, die noch heute in ihrer
verwitterten Gestalt mitten zwischen den Schienensträngen des jetzigen Bahn¬
hofs steht, der Freistuhl von Arnsberg unmittelbar unter der dortigen Burg
im Baumgarten, der von Soest nahe dem Thore in den jetzigen Gemüse¬
gärten, der von Wünnenberg zwischen den Thoren, und so fast überall; da
konnte also von einer Verborgenheit keine Rede sein.

Ebenso wenig wie die Stätte des Gerichts waren auch die Richter, die
sogenannten Freischöffen unbekannt; in ihrer engern Heimath kannte vielmehr
sie Jedermann, und außerhalb derselben durften sie sich offen rühmen Freischöffen
zu sein, da dieses, wenigstens in der Zeit der Blüthe der Fehme, im ganzen
Reiche der beste Sicherheitspaß war; den'n nun vergriff sich nicht leicht Einer
an ihnen, weil man die Rache scheuen mußte. Als im 15, Jahrhundert die
Fehme ihre Wirksamkeit über ganz Deutschland ausdehnte, ließen sich Männer
aus allen Gegenden des Reiches unter die Freischöffen aufnehmen oder wur¬
den, wie es hieß, „wissend". Es wird behauptet, daß um die Zeit als Kaiser
Sigismund am Freistuhl zu Dortmund wissend gemacht war. eine große
Menge deutscher Fürsten und Herren und anderer Freien, zusammen an
100,000 Männer, Freischöffen gewesen seien, und das mag nicht übertrieben
sein, wenn wir bedenken, daß bei einzelnen wichtigen Fehmprocessen an
einem einzigen Freistuhl zuweilen viele hundert bis tausend Freischöffen
versammelt waren, wie z. B. bei der Verfehmung des Herzogs Heinrich von
Baiern im Jahr 1429. Jeder Deutsche, der frei geboren und unbescholten
war, konnte Freischöffe werden, wenn sich wenigstens zwei Freischöffen für ihn
verbürgten.

Die Aufnahme konnte nur auf rother Erde an einem Freistuhl geschehen
und zwar mit genauer Beobachtung der vorgeschriebenen Formalitäten: Zwei
oder mehr Freischöffen traten vor den auf seinem Stuhle sitzenden Freigrafen
und baten um die Erlaubniß, den unwissenden Mann in die heimliche Acht
bringen zu dürfen; zugleich verbürgten sie sich für seine Freiheit und Unbe¬
scholtenheit. Dann wurde derselbe ins Gericht geführt; mit entblößtem Haupte
kniete er vor dem Freigrafen nieder, vor dem auf einem Tisch zwei gekreuzte
Schwerter und ein Strick lagen; auf diese legte nun jeder seine Hand und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/352>, abgerufen am 29.12.2024.