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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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verstehen unter ihnen nur noch wenige die Sprache der Vedas; was sie als
Lehre derselben vortragen, ist ein Gemisch von Echten und Falschen, und
von den Weisungen der heiligen Schriften betonen sie meist nur solche als
unverbrüchlich, welche sür die Priester von Vonheü sind. Sehr selten ist eS
unter ihnen geworden, den weltlichen Freuden zu entsagen oder sich als Büßer
körperlichen Qualen zu unterwerfen. Das Gebot Reichthümer und Wohlthaten
vor Altem den Brahmanen zuzuwenden, wird wenig mehr beachtet, und die
Zahl derer, die auf diese Weise ihr Leben fristen, ist gering. Daher sieht
man heute den Brahmanen in alten Geschäften des Lebens, selbst in solchen,
die für diese Kaste als entwürdigend gelten, besonders aber im Krieger- und
Lauernstand thätig. Im südlichen Indien hat er sich fast aller Aemter be¬
mächtigt, welche der Schreibkunst bedürfen. Sie sind die Minister der Rad-
schas, die Rechnungsführer der kleinsten Orte, die Religionslehrer. In Hin-
dostan und Declan dagegen sind auch viele Mohammedaner im Besitz von
hohen und niederen Aemtern. Je mehr der Brahmane sich weltlichen Dingen
widmete, desto mehr verlor er an religiösem Einfluß. An den Ufern des
Ganges hat seine hierarchische Gewalt beinahe ganz aufgehört, und die Herr¬
schaft über die Gewissen wird weit mehr von gewissen Mönchsorden als von
der Priesterklasse geübt, wenn auch die Verwaltung der Tempel und die Lei¬
tung religiöser Handlungen letzterer verblieben ist. Größer ist ihr Einfluß
im westlichen Hindostan und im Mahrattenlande, doch haben sie auch dort
viel von der Anhänglichkeit des Volkes eingebüßt. Im Allgemeinen gilt,
daß die Brahmanen Vieles von ihrer früheren Geltung verloren, die Kasten
dagegen, welche aus der Vermischung der beiden letzten von den ursprüng¬
lichen vier, das heißt der Vaisjas und Sudras, entstanden sind, in ihrer
Stellung bedeutend gewonnen haben, und daß der Brahmane nur da, wo
sich der alte Glaube erhalten hat, die alte Verehrung genießt. Hier sieht
man noch heute Hindus niederer Kaste den Staub, der von der Brahmanen
Füßen fällt, sammeln, um sich desselben als eines Heilmittels zu bedienen,
hier noch heute Sudras die Blätter, welche ein Brahmane beim Mahl als
Teller benutzt, auflesen und verehren, weil sie dadurch die Gewißheit zu er¬
langen meinen, nach dem Tode als Brahmanen wiedergeboren zu werden.

In Bengalen sind die Vaisjas und Sudras als reine Kaste ausgestor¬
ben, auch die Kschatrijas sind hier selten. Dagegen gibt es hier und ander¬
wärts neben den Brahmanen eine Unzahl jener gemischten Kasten -- in der
Gegend von Puna allein an 150. in Meisor sogar 436 -- von denen aber
jeder Einzelne sich mit peinlicher Sorgfalt gegen die andern abschließt, weder
in sie, noch aus ihnen heirathet, ihnen weder Gastfreundschaft gewährt noch
mit ihnen ißt. Indeß wird der Kastenstolz gelegentlich durch Noth oder Zwang
gedemüthigt. Bei der großen Theuerung, die 1838 in den Nordwestprv-


verstehen unter ihnen nur noch wenige die Sprache der Vedas; was sie als
Lehre derselben vortragen, ist ein Gemisch von Echten und Falschen, und
von den Weisungen der heiligen Schriften betonen sie meist nur solche als
unverbrüchlich, welche sür die Priester von Vonheü sind. Sehr selten ist eS
unter ihnen geworden, den weltlichen Freuden zu entsagen oder sich als Büßer
körperlichen Qualen zu unterwerfen. Das Gebot Reichthümer und Wohlthaten
vor Altem den Brahmanen zuzuwenden, wird wenig mehr beachtet, und die
Zahl derer, die auf diese Weise ihr Leben fristen, ist gering. Daher sieht
man heute den Brahmanen in alten Geschäften des Lebens, selbst in solchen,
die für diese Kaste als entwürdigend gelten, besonders aber im Krieger- und
Lauernstand thätig. Im südlichen Indien hat er sich fast aller Aemter be¬
mächtigt, welche der Schreibkunst bedürfen. Sie sind die Minister der Rad-
schas, die Rechnungsführer der kleinsten Orte, die Religionslehrer. In Hin-
dostan und Declan dagegen sind auch viele Mohammedaner im Besitz von
hohen und niederen Aemtern. Je mehr der Brahmane sich weltlichen Dingen
widmete, desto mehr verlor er an religiösem Einfluß. An den Ufern des
Ganges hat seine hierarchische Gewalt beinahe ganz aufgehört, und die Herr¬
schaft über die Gewissen wird weit mehr von gewissen Mönchsorden als von
der Priesterklasse geübt, wenn auch die Verwaltung der Tempel und die Lei¬
tung religiöser Handlungen letzterer verblieben ist. Größer ist ihr Einfluß
im westlichen Hindostan und im Mahrattenlande, doch haben sie auch dort
viel von der Anhänglichkeit des Volkes eingebüßt. Im Allgemeinen gilt,
daß die Brahmanen Vieles von ihrer früheren Geltung verloren, die Kasten
dagegen, welche aus der Vermischung der beiden letzten von den ursprüng¬
lichen vier, das heißt der Vaisjas und Sudras, entstanden sind, in ihrer
Stellung bedeutend gewonnen haben, und daß der Brahmane nur da, wo
sich der alte Glaube erhalten hat, die alte Verehrung genießt. Hier sieht
man noch heute Hindus niederer Kaste den Staub, der von der Brahmanen
Füßen fällt, sammeln, um sich desselben als eines Heilmittels zu bedienen,
hier noch heute Sudras die Blätter, welche ein Brahmane beim Mahl als
Teller benutzt, auflesen und verehren, weil sie dadurch die Gewißheit zu er¬
langen meinen, nach dem Tode als Brahmanen wiedergeboren zu werden.

In Bengalen sind die Vaisjas und Sudras als reine Kaste ausgestor¬
ben, auch die Kschatrijas sind hier selten. Dagegen gibt es hier und ander¬
wärts neben den Brahmanen eine Unzahl jener gemischten Kasten — in der
Gegend von Puna allein an 150. in Meisor sogar 436 — von denen aber
jeder Einzelne sich mit peinlicher Sorgfalt gegen die andern abschließt, weder
in sie, noch aus ihnen heirathet, ihnen weder Gastfreundschaft gewährt noch
mit ihnen ißt. Indeß wird der Kastenstolz gelegentlich durch Noth oder Zwang
gedemüthigt. Bei der großen Theuerung, die 1838 in den Nordwestprv-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/340>, abgerufen am 23.07.2024.