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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Nationen, bornirte Staatsleute, abgetragene Weiber, vertrackte Militärpersonen,
schmutzige Banquiers!

Weit tiefer als diese politischen Beziehungen lagen Vcirnhagen seine lite¬
rarischen am Herzen, In der Kritikgesellschaft, welche sich regelmäßig ver-
sammelte, um die von der Hegel'schen Schule herausgegebenen Jahrbücher zu
besprechen, fehlte er nie und verfolgte aufmerksam, was Neues in der Literatur
erschien. Sehr interessant sind "die Bemerkungen, die er über Gervinus macht;
nicht als ob man seinem harten Urtheil beipflichten könnte, sondern weil man
gerade aus diesem Urtheil sieht, eine wie wichtige That das Werk von Ger¬
vinus war. Jetzt, wo die Ansichten und Urtheile des Letzteren in Fleisch und
Blut übergegangen sind, haben wir es leicht, sie einzeln zu modificiren, ihnen
eine andere Form zu wünschen u. s, w. Wir haben aber kein Gefühl mehr
dafür, welchen Schreck es bei der älteren Literatur erregte. Varnhagen, als
einer der vorzüglichsten Vertreter derselben auf dem Gebiet der Kritik, fühlt
sich gleichsam persönlich verletzt. "Wieder ein Regentag!" schreibt er 16. Juni 1838.
"Neben der schweren feuchten Lust drückt mich das Buch von Gervinus; ich
finde es überaus traurig, es erhebt nicht, es stimmt herab, und diese Gattung
von Büchern ist die allerschlechteste. denn in diesem Grundfehler vernichten
sich alle sonstigen Vorzüge. Der Mann hätte sich beschränken sollen, ein ta¬
bellarisches Handbuch zu schreiben, denn nur dazu hat er Zeugs, aber ganz
und gnr nicht zur Geschichtschreibung, wie sehr er auch dazu den Anlauf neh¬
men will. Welch ein Schwall von Unbedeutenden und Gemeinem, in welchem
er sich recht mit Lust aufhält, von dem er mit Beflissenheit die genaueste
Kenntniß zeigen will! Und wie bleibt sein Urtheil äußerlich, ohne Grund¬
lagen philosophischer Aesthetik, ohne Ahnung des Genius!"

Nach dem Erscheinen der letzten Bände ändert sich freilich sein Urtheil
einigermaßen. Er gesteht September t840 ein. daß Lessing und Herder vor¬
trefflich beurtheilt sind, doch setzt er 29. Octobrr 1841 hinzu: "Ein Staunens-
werthes, aber auch ein trostloses Buch. Er führt "alle Völker in's Gefecht",
und findet dann freilich, daß ein großes Abschlachten nöthig wird, aber auch
die Besten finden hier Tod und Wunden. Wie er Goethe',, zu bezwingen
sucht, ist merkwürdig anzusehen; er bekämpft ihn mit den eigenen Waffen,
die jener ihm gleichgültig oder großmüthig überläßt. Aus den kleinsten Ge¬
ständnissen, Bemerkungen und Launen des Menschen wie des Dichters zieht
er die größten Folgerungen, macht das Unbedeutende zur Wichtigkeit. Bekenne
Goethe eine Stimmungslosigkeit. so ruft Gervinus. er gestehe ja selbst, daß
es mit dem Dichten aus sei. Dagegen findet er das Wichtigste und Schönste
unbedeutend und gering, die Novelle von Löwen und Tigern, die Erzählungen
in den "Wanderjahren", die "Jahr- und Tageshcfte", in denen er sich an
geringe Notizen und einzelne Ausdrücke hält, das Tiefe. Ausschließende.


Nationen, bornirte Staatsleute, abgetragene Weiber, vertrackte Militärpersonen,
schmutzige Banquiers!

Weit tiefer als diese politischen Beziehungen lagen Vcirnhagen seine lite¬
rarischen am Herzen, In der Kritikgesellschaft, welche sich regelmäßig ver-
sammelte, um die von der Hegel'schen Schule herausgegebenen Jahrbücher zu
besprechen, fehlte er nie und verfolgte aufmerksam, was Neues in der Literatur
erschien. Sehr interessant sind "die Bemerkungen, die er über Gervinus macht;
nicht als ob man seinem harten Urtheil beipflichten könnte, sondern weil man
gerade aus diesem Urtheil sieht, eine wie wichtige That das Werk von Ger¬
vinus war. Jetzt, wo die Ansichten und Urtheile des Letzteren in Fleisch und
Blut übergegangen sind, haben wir es leicht, sie einzeln zu modificiren, ihnen
eine andere Form zu wünschen u. s, w. Wir haben aber kein Gefühl mehr
dafür, welchen Schreck es bei der älteren Literatur erregte. Varnhagen, als
einer der vorzüglichsten Vertreter derselben auf dem Gebiet der Kritik, fühlt
sich gleichsam persönlich verletzt. „Wieder ein Regentag!" schreibt er 16. Juni 1838.
„Neben der schweren feuchten Lust drückt mich das Buch von Gervinus; ich
finde es überaus traurig, es erhebt nicht, es stimmt herab, und diese Gattung
von Büchern ist die allerschlechteste. denn in diesem Grundfehler vernichten
sich alle sonstigen Vorzüge. Der Mann hätte sich beschränken sollen, ein ta¬
bellarisches Handbuch zu schreiben, denn nur dazu hat er Zeugs, aber ganz
und gnr nicht zur Geschichtschreibung, wie sehr er auch dazu den Anlauf neh¬
men will. Welch ein Schwall von Unbedeutenden und Gemeinem, in welchem
er sich recht mit Lust aufhält, von dem er mit Beflissenheit die genaueste
Kenntniß zeigen will! Und wie bleibt sein Urtheil äußerlich, ohne Grund¬
lagen philosophischer Aesthetik, ohne Ahnung des Genius!"

Nach dem Erscheinen der letzten Bände ändert sich freilich sein Urtheil
einigermaßen. Er gesteht September t840 ein. daß Lessing und Herder vor¬
trefflich beurtheilt sind, doch setzt er 29. Octobrr 1841 hinzu: „Ein Staunens-
werthes, aber auch ein trostloses Buch. Er führt „alle Völker in's Gefecht",
und findet dann freilich, daß ein großes Abschlachten nöthig wird, aber auch
die Besten finden hier Tod und Wunden. Wie er Goethe',, zu bezwingen
sucht, ist merkwürdig anzusehen; er bekämpft ihn mit den eigenen Waffen,
die jener ihm gleichgültig oder großmüthig überläßt. Aus den kleinsten Ge¬
ständnissen, Bemerkungen und Launen des Menschen wie des Dichters zieht
er die größten Folgerungen, macht das Unbedeutende zur Wichtigkeit. Bekenne
Goethe eine Stimmungslosigkeit. so ruft Gervinus. er gestehe ja selbst, daß
es mit dem Dichten aus sei. Dagegen findet er das Wichtigste und Schönste
unbedeutend und gering, die Novelle von Löwen und Tigern, die Erzählungen
in den „Wanderjahren", die „Jahr- und Tageshcfte", in denen er sich an
geringe Notizen und einzelne Ausdrücke hält, das Tiefe. Ausschließende.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/336>, abgerufen am 23.07.2024.