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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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konnten, daß mithin die Erweiterung des Wahlrechtes eine gerechtfertigte, und
Vor Allein eine unabweisliche Forderung war. läßt sich nicht bestreiten. Aber
gerade in diesem Punkte war auch für den besten Willen eine durchgreifende
Reform außerordentlich schwierig.

Von 1814 bis 1820 hatte man ununterbrochen mit Wahlgesehen experi-
mentirt. directe oder indirecte Wahlen, Central- oder Departementalwahlen,
Census oder Grundbesitz, alle Möglichkeiten waren ventilirt. Wenn man sich
unfähig fühlte, eine Kammer zu leiten, griff man immer zuerst zu dem Ge¬
danken, sich eine willfährige Kammer zu schaffen. Ganz Europa, die Congresse
zu Aachen und Carlsbad blickten mit Spannung auf diese rastlose Bewegung
in der französischen Wahlgesetzgebung. Es ist mehr als ein Spiel des Zu¬
falls, daß an einem Versuche, eigenmächtig das Wahlgesetz zu ändern, die
ältere Dynastie und am Widerstände gegen weitere Veränderungen die jüngere
Dynastie zu Grunde gehen sollte.

Getrachtet man nun aber den Charakter der einzelnen Kammern von der
enamdi-v mtrouva.b1k an bis auf die letzte Kammer Karl's X., so sieht man
klar, wie nicht das augenblicklich herrschende Wahlsystem, sondern die jedes¬
malige Stimmung des Landes den Ausschlag bei den Wahlen gegeben hat/)
In der That waren alle auf Umänderungen des Wahlgesetzes gerichtete Be¬
strebungen als eine Danaidenarbeit anzusehen. Es fehlte in Frankreich eben
sowol an parlamentarischer Tradition, wie an Gemeindeeinrichtungen, an die
ein organisches Wahlsystem sich hätte anknüpfen lassen. Die Centralisation
der Verwaltung, der völlige Mangel jeder körperschaftlichen Gliederung ließ immer
nur den einzigen Weg offen, das Wahlrecht von einem Census abhängig zu
Machen. Alle künstlichen Modifikationen innerhalb dieses Princips waren von
geringem Einfluß auf das Gesammtresultat. Die innere Unvollkommenheit
des Wahlmodus ist einmal ein unvermeidliches Uebel, dem jede junge, rasch
entstandene Verfassung unterworfen ist. Zu einem festen Princip kann man
nur auf dem Grunde autouomer Communalvcrfassungen kommen. Jede an¬
derweitige Veränderung erscheint uns in regelmäßigen Verhältnissen schlechthin
überflüssig und also verwerflich, weil man immer nur die Sicherheit hat,
etwas Anderes, nicht aber etwas Besseres an die Stelle des Bestehenden zu
setzen.

Indessen eine Veränderung des Wahlgesetzes mußte nach den Julitagen
als nothwendige Concession an die siegreiche Revolution erscheinen; man griff
ZU dem leichten Mittel, in dem die Vortheile, aber auch die großen Gefahren
einer timokratischen Wahlordnung beruhen; man setzte den Census sür das



") Vergl, über alle diese Verhältnisse Gervinus, Geschichte des 19. Jahrhunderts. Band 2.
alte b Frankreich).

konnten, daß mithin die Erweiterung des Wahlrechtes eine gerechtfertigte, und
Vor Allein eine unabweisliche Forderung war. läßt sich nicht bestreiten. Aber
gerade in diesem Punkte war auch für den besten Willen eine durchgreifende
Reform außerordentlich schwierig.

Von 1814 bis 1820 hatte man ununterbrochen mit Wahlgesehen experi-
mentirt. directe oder indirecte Wahlen, Central- oder Departementalwahlen,
Census oder Grundbesitz, alle Möglichkeiten waren ventilirt. Wenn man sich
unfähig fühlte, eine Kammer zu leiten, griff man immer zuerst zu dem Ge¬
danken, sich eine willfährige Kammer zu schaffen. Ganz Europa, die Congresse
zu Aachen und Carlsbad blickten mit Spannung auf diese rastlose Bewegung
in der französischen Wahlgesetzgebung. Es ist mehr als ein Spiel des Zu¬
falls, daß an einem Versuche, eigenmächtig das Wahlgesetz zu ändern, die
ältere Dynastie und am Widerstände gegen weitere Veränderungen die jüngere
Dynastie zu Grunde gehen sollte.

Getrachtet man nun aber den Charakter der einzelnen Kammern von der
enamdi-v mtrouva.b1k an bis auf die letzte Kammer Karl's X., so sieht man
klar, wie nicht das augenblicklich herrschende Wahlsystem, sondern die jedes¬
malige Stimmung des Landes den Ausschlag bei den Wahlen gegeben hat/)
In der That waren alle auf Umänderungen des Wahlgesetzes gerichtete Be¬
strebungen als eine Danaidenarbeit anzusehen. Es fehlte in Frankreich eben
sowol an parlamentarischer Tradition, wie an Gemeindeeinrichtungen, an die
ein organisches Wahlsystem sich hätte anknüpfen lassen. Die Centralisation
der Verwaltung, der völlige Mangel jeder körperschaftlichen Gliederung ließ immer
nur den einzigen Weg offen, das Wahlrecht von einem Census abhängig zu
Machen. Alle künstlichen Modifikationen innerhalb dieses Princips waren von
geringem Einfluß auf das Gesammtresultat. Die innere Unvollkommenheit
des Wahlmodus ist einmal ein unvermeidliches Uebel, dem jede junge, rasch
entstandene Verfassung unterworfen ist. Zu einem festen Princip kann man
nur auf dem Grunde autouomer Communalvcrfassungen kommen. Jede an¬
derweitige Veränderung erscheint uns in regelmäßigen Verhältnissen schlechthin
überflüssig und also verwerflich, weil man immer nur die Sicherheit hat,
etwas Anderes, nicht aber etwas Besseres an die Stelle des Bestehenden zu
setzen.

Indessen eine Veränderung des Wahlgesetzes mußte nach den Julitagen
als nothwendige Concession an die siegreiche Revolution erscheinen; man griff
ZU dem leichten Mittel, in dem die Vortheile, aber auch die großen Gefahren
einer timokratischen Wahlordnung beruhen; man setzte den Census sür das



") Vergl, über alle diese Verhältnisse Gervinus, Geschichte des 19. Jahrhunderts. Band 2.
alte b Frankreich).
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[0225] konnten, daß mithin die Erweiterung des Wahlrechtes eine gerechtfertigte, und Vor Allein eine unabweisliche Forderung war. läßt sich nicht bestreiten. Aber gerade in diesem Punkte war auch für den besten Willen eine durchgreifende Reform außerordentlich schwierig. Von 1814 bis 1820 hatte man ununterbrochen mit Wahlgesehen experi- mentirt. directe oder indirecte Wahlen, Central- oder Departementalwahlen, Census oder Grundbesitz, alle Möglichkeiten waren ventilirt. Wenn man sich unfähig fühlte, eine Kammer zu leiten, griff man immer zuerst zu dem Ge¬ danken, sich eine willfährige Kammer zu schaffen. Ganz Europa, die Congresse zu Aachen und Carlsbad blickten mit Spannung auf diese rastlose Bewegung in der französischen Wahlgesetzgebung. Es ist mehr als ein Spiel des Zu¬ falls, daß an einem Versuche, eigenmächtig das Wahlgesetz zu ändern, die ältere Dynastie und am Widerstände gegen weitere Veränderungen die jüngere Dynastie zu Grunde gehen sollte. Getrachtet man nun aber den Charakter der einzelnen Kammern von der enamdi-v mtrouva.b1k an bis auf die letzte Kammer Karl's X., so sieht man klar, wie nicht das augenblicklich herrschende Wahlsystem, sondern die jedes¬ malige Stimmung des Landes den Ausschlag bei den Wahlen gegeben hat/) In der That waren alle auf Umänderungen des Wahlgesetzes gerichtete Be¬ strebungen als eine Danaidenarbeit anzusehen. Es fehlte in Frankreich eben sowol an parlamentarischer Tradition, wie an Gemeindeeinrichtungen, an die ein organisches Wahlsystem sich hätte anknüpfen lassen. Die Centralisation der Verwaltung, der völlige Mangel jeder körperschaftlichen Gliederung ließ immer nur den einzigen Weg offen, das Wahlrecht von einem Census abhängig zu Machen. Alle künstlichen Modifikationen innerhalb dieses Princips waren von geringem Einfluß auf das Gesammtresultat. Die innere Unvollkommenheit des Wahlmodus ist einmal ein unvermeidliches Uebel, dem jede junge, rasch entstandene Verfassung unterworfen ist. Zu einem festen Princip kann man nur auf dem Grunde autouomer Communalvcrfassungen kommen. Jede an¬ derweitige Veränderung erscheint uns in regelmäßigen Verhältnissen schlechthin überflüssig und also verwerflich, weil man immer nur die Sicherheit hat, etwas Anderes, nicht aber etwas Besseres an die Stelle des Bestehenden zu setzen. Indessen eine Veränderung des Wahlgesetzes mußte nach den Julitagen als nothwendige Concession an die siegreiche Revolution erscheinen; man griff ZU dem leichten Mittel, in dem die Vortheile, aber auch die großen Gefahren einer timokratischen Wahlordnung beruhen; man setzte den Census sür das ") Vergl, über alle diese Verhältnisse Gervinus, Geschichte des 19. Jahrhunderts. Band 2. alte b Frankreich).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/225>, abgerufen am 23.07.2024.