Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Periode unmittelbar nach einer Revolution ist für diejenigen, welche
durch sie sich zur Herrschaft emporgeschwungen haben, immer eine Zeit schwerer
Prüfung. Jede Wiederherstellung einer festen Ordnung ist eine Enttäuschung
für die Elemente, welche die neuen Herren auf den Thron gehoben haben.
Im höchsten Grade war dies die Lage der Dinge nach den Julitagen in
Frankreich. Die republicanische Partei war durch den siegreichen Straßenkampf
ihrer Stärke sich bewußt geworden; und sie war nicht gemeint, dem Bürger-
thume gegenüber, welches die Früchte des Sieges davongetragen hatte, es
bei ohnmächtigem Grollen bewenden zu lassen. Eine mit^ Geist und Leiden¬
schaft geleitete Tagespresse, unterstützt durch zahllose Flugschriften und Carrt-
katuren, in denen Legitimisten und Demokraten wetteiferten, auch die höchsten
Personen mit giftigem Hohne zu verfolgen und dem Spotte und Hasse preis¬
zugeben, nährte und verbreitete die Aufregung durch ganz Frankreich. Das
ganze Land wurde von einem Netze revolutionärer Verbindungen überzogen.
Die erste Zeit der Regierung Ludwig Philipp's war ein ununterbrochener
Kampf wider Aufstände, Verschwörungen, Attentate. Zwar befestigte sich die
Macht der Negierung scheinbar durch die wiederholten Siege über den offenen
Aufruhr; die Stimmung im Lande blieb aber unverändert feindlich. Die
socialistischen und communistischen Systeme, so gering ihr wissenschaftlicher
Werth ist und so weit sie davon entfernt sind, eine neue Phase in den Zu¬
ständen der menschlichen Gesellschaft einzuleiten, üblen nichisdestoweniger
eine unberechenbare Wirkung, die sich weit über die Grenzen Frankreichs er¬
streckte. Sie waren ein unvergleichliches Mittel der revolutionären Propaganda.
Der Schein philosophischen Tiessinns gewann der Lehre viele Proselyten, die
vor der praktischen Anwendung, mit der die Terroristen von 1793 der Doctrin
vorangeeilt waren, zurückgeschaudert sein würden; der Masse aber lieferte sie
Schlagwörter, deren volle, einerseits aufregende, andererseits betäubende Kraft
das Jahr 1843 enthüllt hat. Wenn Sybel richtig bemerkt, daß jede Revolu¬
tion, durch welche die Massen in Bewegung gesetzt worden sind, einen socialen
oder religiösen Charakter gehabt hat, so unterscheidet sich die Bewegung, von
welcher Frankreich unter dem Julikönigthum zerarbcilet wurde, doch darin von
den meisten früheren Revolutionen, daß sie ihre socialen Zwecke schon in ihren
Ansängen mit vollem Bewußtsein offen auf ihre Fahnen schrieb.

Mit welchen Mitteln nun hat die herrschende Macht, die in den Kammern
ihre Vertretung fand, den Kampf geführt, in dem sie nach achtzehnjährigen
erschöpfenden Ringen einem verwegenen Handstreiche erliegen sollte?

Zunächst war die Forderung unabweislich, den ärmern Klassen eine Con¬
cession zu machen. Daß bei einem Wahlgesetze, welches 90000 Wählern' die
volle Disposition über ein Volk von 30 Millionen in die Hände gab, die
Kammern nicht als eine Vertretung der ganzen Nation angesehen werden


Die Periode unmittelbar nach einer Revolution ist für diejenigen, welche
durch sie sich zur Herrschaft emporgeschwungen haben, immer eine Zeit schwerer
Prüfung. Jede Wiederherstellung einer festen Ordnung ist eine Enttäuschung
für die Elemente, welche die neuen Herren auf den Thron gehoben haben.
Im höchsten Grade war dies die Lage der Dinge nach den Julitagen in
Frankreich. Die republicanische Partei war durch den siegreichen Straßenkampf
ihrer Stärke sich bewußt geworden; und sie war nicht gemeint, dem Bürger-
thume gegenüber, welches die Früchte des Sieges davongetragen hatte, es
bei ohnmächtigem Grollen bewenden zu lassen. Eine mit^ Geist und Leiden¬
schaft geleitete Tagespresse, unterstützt durch zahllose Flugschriften und Carrt-
katuren, in denen Legitimisten und Demokraten wetteiferten, auch die höchsten
Personen mit giftigem Hohne zu verfolgen und dem Spotte und Hasse preis¬
zugeben, nährte und verbreitete die Aufregung durch ganz Frankreich. Das
ganze Land wurde von einem Netze revolutionärer Verbindungen überzogen.
Die erste Zeit der Regierung Ludwig Philipp's war ein ununterbrochener
Kampf wider Aufstände, Verschwörungen, Attentate. Zwar befestigte sich die
Macht der Negierung scheinbar durch die wiederholten Siege über den offenen
Aufruhr; die Stimmung im Lande blieb aber unverändert feindlich. Die
socialistischen und communistischen Systeme, so gering ihr wissenschaftlicher
Werth ist und so weit sie davon entfernt sind, eine neue Phase in den Zu¬
ständen der menschlichen Gesellschaft einzuleiten, üblen nichisdestoweniger
eine unberechenbare Wirkung, die sich weit über die Grenzen Frankreichs er¬
streckte. Sie waren ein unvergleichliches Mittel der revolutionären Propaganda.
Der Schein philosophischen Tiessinns gewann der Lehre viele Proselyten, die
vor der praktischen Anwendung, mit der die Terroristen von 1793 der Doctrin
vorangeeilt waren, zurückgeschaudert sein würden; der Masse aber lieferte sie
Schlagwörter, deren volle, einerseits aufregende, andererseits betäubende Kraft
das Jahr 1843 enthüllt hat. Wenn Sybel richtig bemerkt, daß jede Revolu¬
tion, durch welche die Massen in Bewegung gesetzt worden sind, einen socialen
oder religiösen Charakter gehabt hat, so unterscheidet sich die Bewegung, von
welcher Frankreich unter dem Julikönigthum zerarbcilet wurde, doch darin von
den meisten früheren Revolutionen, daß sie ihre socialen Zwecke schon in ihren
Ansängen mit vollem Bewußtsein offen auf ihre Fahnen schrieb.

Mit welchen Mitteln nun hat die herrschende Macht, die in den Kammern
ihre Vertretung fand, den Kampf geführt, in dem sie nach achtzehnjährigen
erschöpfenden Ringen einem verwegenen Handstreiche erliegen sollte?

Zunächst war die Forderung unabweislich, den ärmern Klassen eine Con¬
cession zu machen. Daß bei einem Wahlgesetze, welches 90000 Wählern' die
volle Disposition über ein Volk von 30 Millionen in die Hände gab, die
Kammern nicht als eine Vertretung der ganzen Nation angesehen werden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112732"/>
              <p xml:id="ID_662"> Die Periode unmittelbar nach einer Revolution ist für diejenigen, welche<lb/>
durch sie sich zur Herrschaft emporgeschwungen haben, immer eine Zeit schwerer<lb/>
Prüfung. Jede Wiederherstellung einer festen Ordnung ist eine Enttäuschung<lb/>
für die Elemente, welche die neuen Herren auf den Thron gehoben haben.<lb/>
Im höchsten Grade war dies die Lage der Dinge nach den Julitagen in<lb/>
Frankreich. Die republicanische Partei war durch den siegreichen Straßenkampf<lb/>
ihrer Stärke sich bewußt geworden; und sie war nicht gemeint, dem Bürger-<lb/>
thume gegenüber, welches die Früchte des Sieges davongetragen hatte, es<lb/>
bei ohnmächtigem Grollen bewenden zu lassen. Eine mit^ Geist und Leiden¬<lb/>
schaft geleitete Tagespresse, unterstützt durch zahllose Flugschriften und Carrt-<lb/>
katuren, in denen Legitimisten und Demokraten wetteiferten, auch die höchsten<lb/>
Personen mit giftigem Hohne zu verfolgen und dem Spotte und Hasse preis¬<lb/>
zugeben, nährte und verbreitete die Aufregung durch ganz Frankreich. Das<lb/>
ganze Land wurde von einem Netze revolutionärer Verbindungen überzogen.<lb/>
Die erste Zeit der Regierung Ludwig Philipp's war ein ununterbrochener<lb/>
Kampf wider Aufstände, Verschwörungen, Attentate. Zwar befestigte sich die<lb/>
Macht der Negierung scheinbar durch die wiederholten Siege über den offenen<lb/>
Aufruhr; die Stimmung im Lande blieb aber unverändert feindlich. Die<lb/>
socialistischen und communistischen Systeme, so gering ihr wissenschaftlicher<lb/>
Werth ist und so weit sie davon entfernt sind, eine neue Phase in den Zu¬<lb/>
ständen der menschlichen Gesellschaft einzuleiten, üblen nichisdestoweniger<lb/>
eine unberechenbare Wirkung, die sich weit über die Grenzen Frankreichs er¬<lb/>
streckte. Sie waren ein unvergleichliches Mittel der revolutionären Propaganda.<lb/>
Der Schein philosophischen Tiessinns gewann der Lehre viele Proselyten, die<lb/>
vor der praktischen Anwendung, mit der die Terroristen von 1793 der Doctrin<lb/>
vorangeeilt waren, zurückgeschaudert sein würden; der Masse aber lieferte sie<lb/>
Schlagwörter, deren volle, einerseits aufregende, andererseits betäubende Kraft<lb/>
das Jahr 1843 enthüllt hat. Wenn Sybel richtig bemerkt, daß jede Revolu¬<lb/>
tion, durch welche die Massen in Bewegung gesetzt worden sind, einen socialen<lb/>
oder religiösen Charakter gehabt hat, so unterscheidet sich die Bewegung, von<lb/>
welcher Frankreich unter dem Julikönigthum zerarbcilet wurde, doch darin von<lb/>
den meisten früheren Revolutionen, daß sie ihre socialen Zwecke schon in ihren<lb/>
Ansängen mit vollem Bewußtsein offen auf ihre Fahnen schrieb.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_663"> Mit welchen Mitteln nun hat die herrschende Macht, die in den Kammern<lb/>
ihre Vertretung fand, den Kampf geführt, in dem sie nach achtzehnjährigen<lb/>
erschöpfenden Ringen einem verwegenen Handstreiche erliegen sollte?</p><lb/>
              <p xml:id="ID_664" next="#ID_665"> Zunächst war die Forderung unabweislich, den ärmern Klassen eine Con¬<lb/>
cession zu machen. Daß bei einem Wahlgesetze, welches 90000 Wählern' die<lb/>
volle Disposition über ein Volk von 30 Millionen in die Hände gab, die<lb/>
Kammern nicht als eine Vertretung der ganzen Nation angesehen werden</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] Die Periode unmittelbar nach einer Revolution ist für diejenigen, welche durch sie sich zur Herrschaft emporgeschwungen haben, immer eine Zeit schwerer Prüfung. Jede Wiederherstellung einer festen Ordnung ist eine Enttäuschung für die Elemente, welche die neuen Herren auf den Thron gehoben haben. Im höchsten Grade war dies die Lage der Dinge nach den Julitagen in Frankreich. Die republicanische Partei war durch den siegreichen Straßenkampf ihrer Stärke sich bewußt geworden; und sie war nicht gemeint, dem Bürger- thume gegenüber, welches die Früchte des Sieges davongetragen hatte, es bei ohnmächtigem Grollen bewenden zu lassen. Eine mit^ Geist und Leiden¬ schaft geleitete Tagespresse, unterstützt durch zahllose Flugschriften und Carrt- katuren, in denen Legitimisten und Demokraten wetteiferten, auch die höchsten Personen mit giftigem Hohne zu verfolgen und dem Spotte und Hasse preis¬ zugeben, nährte und verbreitete die Aufregung durch ganz Frankreich. Das ganze Land wurde von einem Netze revolutionärer Verbindungen überzogen. Die erste Zeit der Regierung Ludwig Philipp's war ein ununterbrochener Kampf wider Aufstände, Verschwörungen, Attentate. Zwar befestigte sich die Macht der Negierung scheinbar durch die wiederholten Siege über den offenen Aufruhr; die Stimmung im Lande blieb aber unverändert feindlich. Die socialistischen und communistischen Systeme, so gering ihr wissenschaftlicher Werth ist und so weit sie davon entfernt sind, eine neue Phase in den Zu¬ ständen der menschlichen Gesellschaft einzuleiten, üblen nichisdestoweniger eine unberechenbare Wirkung, die sich weit über die Grenzen Frankreichs er¬ streckte. Sie waren ein unvergleichliches Mittel der revolutionären Propaganda. Der Schein philosophischen Tiessinns gewann der Lehre viele Proselyten, die vor der praktischen Anwendung, mit der die Terroristen von 1793 der Doctrin vorangeeilt waren, zurückgeschaudert sein würden; der Masse aber lieferte sie Schlagwörter, deren volle, einerseits aufregende, andererseits betäubende Kraft das Jahr 1843 enthüllt hat. Wenn Sybel richtig bemerkt, daß jede Revolu¬ tion, durch welche die Massen in Bewegung gesetzt worden sind, einen socialen oder religiösen Charakter gehabt hat, so unterscheidet sich die Bewegung, von welcher Frankreich unter dem Julikönigthum zerarbcilet wurde, doch darin von den meisten früheren Revolutionen, daß sie ihre socialen Zwecke schon in ihren Ansängen mit vollem Bewußtsein offen auf ihre Fahnen schrieb. Mit welchen Mitteln nun hat die herrschende Macht, die in den Kammern ihre Vertretung fand, den Kampf geführt, in dem sie nach achtzehnjährigen erschöpfenden Ringen einem verwegenen Handstreiche erliegen sollte? Zunächst war die Forderung unabweislich, den ärmern Klassen eine Con¬ cession zu machen. Daß bei einem Wahlgesetze, welches 90000 Wählern' die volle Disposition über ein Volk von 30 Millionen in die Hände gab, die Kammern nicht als eine Vertretung der ganzen Nation angesehen werden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/224>, abgerufen am 23.07.2024.