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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Die Zucht und der Zwang der academischen Regel war abgeworfen; kein Ge-
setz und keine Convenienz sollten mehr die Erscheinung der menschlichen Form
modeln und beschneiden, der individuellen Phantasie des Malers Gewalt an-
thun, die freie leidenschaftliche Aeußerung menschlichen Thuns und Fühlens
in eine abstracte Schönheitslinie pressen. Denn das Ideal war in der Schule
Davids allmählig zu einer bloßen, der Wirklichkeit von außen zugebrachten
Formel geworden. Und endlich sollte die Malerei ihr Recht haben, sie
sollte Malerei sein, das Leben in der Tiefe und Pracht seines farbenglühenden
Scheins wiedergeben, indem das Innere kräftig zum Licht hinausschlägt,
und die Dinge ihr Jneinanderleuchten und Zusammenwirken offenbaren. .

Im Salon von 1819, also 3 Jahre nach der Ausstellung von Gvncault's
Schistbruch, erregte ein Bild, das Dante und Virgil von Phlegias geführt
auf dem die Höllenstadt umgebenden See in Mitten der mit den Wo¬
gen kämpfenden Verdammten darstellte, die allgemeine Aufmerksamkeit und
bald den heftigen Widerstreit der öffentlichen Stimmen, die sich die einen für,
die andern gegen den Künstler, alle gleich heftig erklärten. Dieser war Eugene
Delacroix, wie Gencault aus der Guvrin'schen Schule hervorgegangen
und unter dem Einflüsse seines Mitschülers gebildet. Schon in der Wahl
des Motivs lag die Absicht, eine .eindringliche Wirkung auf den Beschauer
hervorzubringen, und so war auch die Behandlung ganz daraus angelegt , ihn
zu überraschen und zu erschüttern. Die nackten, theils miteinander kämpfen-
den, theils an den Nachen sich anklammernden Leiber stellen sich in der wil¬
den ganz zufälligen Bewegung des Augenblickes dar, der Krampf der Ver¬
zweiflung erscheint im grellsten Ausbruche, das Entsetzen Dante's in ganz un¬
gezügelten Ausdruck; über das Ganze ist ein fahler, unheimlich trüber Ton
verbratet, in welchen nur hie und da die leuchtenden Farben des Fleisches
und der Gewänder ein freilich um so wirksameres Leben bringen. In der
Form ist jede Schönheitslinie, in der Anordnung der harmonische Hug ab¬
sichtlich vermieden. Der Künstler wußte sich das Interesse des Puolicums
zu erhalten; im Jahre 1824 erregte das Bild, "griechische Familien von
Chios, den Tod oder die Sclaverei erwartend" gleiches Aufsehen. Wieder ein
Motiv, das sich ergreifend an die Phantasie wandte; der Aufstand der Grie¬
chen beschäftigte lebhaft die Gemüther, und hier sah man nun ihr furchtbares
Leiden: halbnackte Männer und Frauen. Abschied nehmend, vnzweifelnd,
sterbend, in wirrem Knäuel durcheinander liegend, einzelne von den Türken
fortgeschleppt. Dieselbe Behandlung: Stellungen, wie sie der bedrängte Mo¬
ment giebt, der Schmerz in der Heftigkeit des unbändigen Ausbruches, For¬
men wie sie zufällig die kämpfende und leidende Matur zeigt. Im Jahre
1827 folgte, i,r ganz gleicher Weise behandelt, eine Reihe von Gemälden,
welche ihre Motive aus den verschiedensten Gebieten des Lebens geholt hatten:


Die Zucht und der Zwang der academischen Regel war abgeworfen; kein Ge-
setz und keine Convenienz sollten mehr die Erscheinung der menschlichen Form
modeln und beschneiden, der individuellen Phantasie des Malers Gewalt an-
thun, die freie leidenschaftliche Aeußerung menschlichen Thuns und Fühlens
in eine abstracte Schönheitslinie pressen. Denn das Ideal war in der Schule
Davids allmählig zu einer bloßen, der Wirklichkeit von außen zugebrachten
Formel geworden. Und endlich sollte die Malerei ihr Recht haben, sie
sollte Malerei sein, das Leben in der Tiefe und Pracht seines farbenglühenden
Scheins wiedergeben, indem das Innere kräftig zum Licht hinausschlägt,
und die Dinge ihr Jneinanderleuchten und Zusammenwirken offenbaren. .

Im Salon von 1819, also 3 Jahre nach der Ausstellung von Gvncault's
Schistbruch, erregte ein Bild, das Dante und Virgil von Phlegias geführt
auf dem die Höllenstadt umgebenden See in Mitten der mit den Wo¬
gen kämpfenden Verdammten darstellte, die allgemeine Aufmerksamkeit und
bald den heftigen Widerstreit der öffentlichen Stimmen, die sich die einen für,
die andern gegen den Künstler, alle gleich heftig erklärten. Dieser war Eugene
Delacroix, wie Gencault aus der Guvrin'schen Schule hervorgegangen
und unter dem Einflüsse seines Mitschülers gebildet. Schon in der Wahl
des Motivs lag die Absicht, eine .eindringliche Wirkung auf den Beschauer
hervorzubringen, und so war auch die Behandlung ganz daraus angelegt , ihn
zu überraschen und zu erschüttern. Die nackten, theils miteinander kämpfen-
den, theils an den Nachen sich anklammernden Leiber stellen sich in der wil¬
den ganz zufälligen Bewegung des Augenblickes dar, der Krampf der Ver¬
zweiflung erscheint im grellsten Ausbruche, das Entsetzen Dante's in ganz un¬
gezügelten Ausdruck; über das Ganze ist ein fahler, unheimlich trüber Ton
verbratet, in welchen nur hie und da die leuchtenden Farben des Fleisches
und der Gewänder ein freilich um so wirksameres Leben bringen. In der
Form ist jede Schönheitslinie, in der Anordnung der harmonische Hug ab¬
sichtlich vermieden. Der Künstler wußte sich das Interesse des Puolicums
zu erhalten; im Jahre 1824 erregte das Bild, „griechische Familien von
Chios, den Tod oder die Sclaverei erwartend" gleiches Aufsehen. Wieder ein
Motiv, das sich ergreifend an die Phantasie wandte; der Aufstand der Grie¬
chen beschäftigte lebhaft die Gemüther, und hier sah man nun ihr furchtbares
Leiden: halbnackte Männer und Frauen. Abschied nehmend, vnzweifelnd,
sterbend, in wirrem Knäuel durcheinander liegend, einzelne von den Türken
fortgeschleppt. Dieselbe Behandlung: Stellungen, wie sie der bedrängte Mo¬
ment giebt, der Schmerz in der Heftigkeit des unbändigen Ausbruches, For¬
men wie sie zufällig die kämpfende und leidende Matur zeigt. Im Jahre
1827 folgte, i,r ganz gleicher Weise behandelt, eine Reihe von Gemälden,
welche ihre Motive aus den verschiedensten Gebieten des Lebens geholt hatten:


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[0186] Die Zucht und der Zwang der academischen Regel war abgeworfen; kein Ge- setz und keine Convenienz sollten mehr die Erscheinung der menschlichen Form modeln und beschneiden, der individuellen Phantasie des Malers Gewalt an- thun, die freie leidenschaftliche Aeußerung menschlichen Thuns und Fühlens in eine abstracte Schönheitslinie pressen. Denn das Ideal war in der Schule Davids allmählig zu einer bloßen, der Wirklichkeit von außen zugebrachten Formel geworden. Und endlich sollte die Malerei ihr Recht haben, sie sollte Malerei sein, das Leben in der Tiefe und Pracht seines farbenglühenden Scheins wiedergeben, indem das Innere kräftig zum Licht hinausschlägt, und die Dinge ihr Jneinanderleuchten und Zusammenwirken offenbaren. . Im Salon von 1819, also 3 Jahre nach der Ausstellung von Gvncault's Schistbruch, erregte ein Bild, das Dante und Virgil von Phlegias geführt auf dem die Höllenstadt umgebenden See in Mitten der mit den Wo¬ gen kämpfenden Verdammten darstellte, die allgemeine Aufmerksamkeit und bald den heftigen Widerstreit der öffentlichen Stimmen, die sich die einen für, die andern gegen den Künstler, alle gleich heftig erklärten. Dieser war Eugene Delacroix, wie Gencault aus der Guvrin'schen Schule hervorgegangen und unter dem Einflüsse seines Mitschülers gebildet. Schon in der Wahl des Motivs lag die Absicht, eine .eindringliche Wirkung auf den Beschauer hervorzubringen, und so war auch die Behandlung ganz daraus angelegt , ihn zu überraschen und zu erschüttern. Die nackten, theils miteinander kämpfen- den, theils an den Nachen sich anklammernden Leiber stellen sich in der wil¬ den ganz zufälligen Bewegung des Augenblickes dar, der Krampf der Ver¬ zweiflung erscheint im grellsten Ausbruche, das Entsetzen Dante's in ganz un¬ gezügelten Ausdruck; über das Ganze ist ein fahler, unheimlich trüber Ton verbratet, in welchen nur hie und da die leuchtenden Farben des Fleisches und der Gewänder ein freilich um so wirksameres Leben bringen. In der Form ist jede Schönheitslinie, in der Anordnung der harmonische Hug ab¬ sichtlich vermieden. Der Künstler wußte sich das Interesse des Puolicums zu erhalten; im Jahre 1824 erregte das Bild, „griechische Familien von Chios, den Tod oder die Sclaverei erwartend" gleiches Aufsehen. Wieder ein Motiv, das sich ergreifend an die Phantasie wandte; der Aufstand der Grie¬ chen beschäftigte lebhaft die Gemüther, und hier sah man nun ihr furchtbares Leiden: halbnackte Männer und Frauen. Abschied nehmend, vnzweifelnd, sterbend, in wirrem Knäuel durcheinander liegend, einzelne von den Türken fortgeschleppt. Dieselbe Behandlung: Stellungen, wie sie der bedrängte Mo¬ ment giebt, der Schmerz in der Heftigkeit des unbändigen Ausbruches, For¬ men wie sie zufällig die kämpfende und leidende Matur zeigt. Im Jahre 1827 folgte, i,r ganz gleicher Weise behandelt, eine Reihe von Gemälden, welche ihre Motive aus den verschiedensten Gebieten des Lebens geholt hatten:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/186>, abgerufen am 23.07.2024.