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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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getrieben dem Meister folgte, die Eigenthümlichkeit nicht. Es ist insbesondere
die religiöse Malerei, in der sich Flandrin hervorthut; und wenn er auch in
der Vollendung der Form sein Vorbild nicht immer erreicht, so ist es doch
andererseits , wie wenn in ihm erst die neue Kunst, die den vollendeten Ita¬
lienern nachstrebte, die Phantasie ganz durchdrungen und belebt hätte. Flan¬
drin scheint von der Natur vor Allem befähigt, sich mit ebenso innigem als
feinem Gefühl in die edle Anschauungsweise des Cinquecento zu versetzen und
so ist es ihm möglich geworden, die christliche Mythe in einer Weise zur
Darstellung zu bringen, die uns bei der Betrachtung vergessen läßt, daß wir
in einem Jahrhundert leben, welches durch die Auflösung aller Mythe sich
auszeichnet. Die religiöse Empfindung und Vorstellung ist eben ganz in die
künstlerische übersehe, und nur dadurch, daß sich der Maler nicht an den christ¬
lichen Ideen, sondern einfach am Schönen, an den Vorbildern der Kunst be¬
geisterte, konnte er eine so große Wirkung hervorbringen.

Schon früh wandte sich Flandrin. nachdem er in Rom die Academie be¬
sucht, zu den religiösen Motiven ("Christus, der die Kindlein zu sich kommen
läßt," 1839; aus dem Jahre 1842 ist ein gutes historisches Bild "der heilige
Ludwig seine Gesetzbücher dictirend," mit edlen Köpfen und einer einfach
würdigen Anordnung). Aber erst in den monumentalen Werken zeigte sich
sein ganzes Talent, wie denn auch das religiöse Gemälde in der stimmungs¬
vollen Umgebung des kirchlichen Raums erst zur wahren Geltung kommt. In
der Kirche Saint-Severin malte er die Kapelle des Evangelisten Johannes
(1842), und schon hier ist in der Darstellung des Abendmahles eine anziehende
Klarheit und Einfachheit der Composition, bei lebendiger Bestimmtheit eine
schöne Würde der Gestalten, ein monumentales Gepräge. Noch freier und
vollendeter und durchaus von einer edlen Empfindung getragen, sind seine
Gemälde in der Kirche Saint-Germain-des-Pr6s, insbesondere der Einzug Christi
in Jerusalem. Der Beschauer fühlt, daß der Maler die Fresken des Vaticans
gründlich angesehen und verarbeitet hat; doch mag es Flandrin wohl empfun¬
den haben, daß es nur dem Meister der Madonnen gegeben war, das Christ¬
liche ganz zur schönen Menschlichkeit herauszubilden, ohne die Innigkeit ein¬
zubüßen, und so versuchte er. diesem in der Form, in dem Ausdruck aber der
Andacht und frommen Stille es den älteren Meistern nach zu thun. So
weit eine solche künstliche Verschmelzung den Mangel des ganzen vollen Gusses
überhaupt ersetzen kann, läßt sich das Bild als eins der wenigen echten Kunst¬
werke bezeichnen, welche die moderne französische Schule aufzuweisen hat.
Weniger glücklich war er in der Darstellung der Kreuztragung. Hier, wo es
galt die Bewegtheit des Vorgangs und das tiefere Leiden zur Erscheinung zu
bringen, ohne der Würde der Gestalten und der gehobenen Stimmung des
Geistes Eintrag zu thun, war die Aufgabe für den Maler der Gegenwart,


getrieben dem Meister folgte, die Eigenthümlichkeit nicht. Es ist insbesondere
die religiöse Malerei, in der sich Flandrin hervorthut; und wenn er auch in
der Vollendung der Form sein Vorbild nicht immer erreicht, so ist es doch
andererseits , wie wenn in ihm erst die neue Kunst, die den vollendeten Ita¬
lienern nachstrebte, die Phantasie ganz durchdrungen und belebt hätte. Flan¬
drin scheint von der Natur vor Allem befähigt, sich mit ebenso innigem als
feinem Gefühl in die edle Anschauungsweise des Cinquecento zu versetzen und
so ist es ihm möglich geworden, die christliche Mythe in einer Weise zur
Darstellung zu bringen, die uns bei der Betrachtung vergessen läßt, daß wir
in einem Jahrhundert leben, welches durch die Auflösung aller Mythe sich
auszeichnet. Die religiöse Empfindung und Vorstellung ist eben ganz in die
künstlerische übersehe, und nur dadurch, daß sich der Maler nicht an den christ¬
lichen Ideen, sondern einfach am Schönen, an den Vorbildern der Kunst be¬
geisterte, konnte er eine so große Wirkung hervorbringen.

Schon früh wandte sich Flandrin. nachdem er in Rom die Academie be¬
sucht, zu den religiösen Motiven („Christus, der die Kindlein zu sich kommen
läßt," 1839; aus dem Jahre 1842 ist ein gutes historisches Bild „der heilige
Ludwig seine Gesetzbücher dictirend," mit edlen Köpfen und einer einfach
würdigen Anordnung). Aber erst in den monumentalen Werken zeigte sich
sein ganzes Talent, wie denn auch das religiöse Gemälde in der stimmungs¬
vollen Umgebung des kirchlichen Raums erst zur wahren Geltung kommt. In
der Kirche Saint-Severin malte er die Kapelle des Evangelisten Johannes
(1842), und schon hier ist in der Darstellung des Abendmahles eine anziehende
Klarheit und Einfachheit der Composition, bei lebendiger Bestimmtheit eine
schöne Würde der Gestalten, ein monumentales Gepräge. Noch freier und
vollendeter und durchaus von einer edlen Empfindung getragen, sind seine
Gemälde in der Kirche Saint-Germain-des-Pr6s, insbesondere der Einzug Christi
in Jerusalem. Der Beschauer fühlt, daß der Maler die Fresken des Vaticans
gründlich angesehen und verarbeitet hat; doch mag es Flandrin wohl empfun¬
den haben, daß es nur dem Meister der Madonnen gegeben war, das Christ¬
liche ganz zur schönen Menschlichkeit herauszubilden, ohne die Innigkeit ein¬
zubüßen, und so versuchte er. diesem in der Form, in dem Ausdruck aber der
Andacht und frommen Stille es den älteren Meistern nach zu thun. So
weit eine solche künstliche Verschmelzung den Mangel des ganzen vollen Gusses
überhaupt ersetzen kann, läßt sich das Bild als eins der wenigen echten Kunst¬
werke bezeichnen, welche die moderne französische Schule aufzuweisen hat.
Weniger glücklich war er in der Darstellung der Kreuztragung. Hier, wo es
galt die Bewegtheit des Vorgangs und das tiefere Leiden zur Erscheinung zu
bringen, ohne der Würde der Gestalten und der gehobenen Stimmung des
Geistes Eintrag zu thun, war die Aufgabe für den Maler der Gegenwart,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/178>, abgerufen am 29.12.2024.