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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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bis in das Mittelalter zurückgreifende Grundfehler unserer Gesellschaft, das
Feststehen der einzelnen Elemente im einseitigen Eigenrecht und Sonderinteresse,
ist in England so wenig überwunden, daß vielmehr ganz umgekehrt seine ge¬
rühmte Freiheit eben darauf ruht, daß die hervorragenderen und selbständigeren
Elemente (grundbesitzender Adel und industrielles Bürgerthum) diesem ihrem
Sonderrechte und Sonderdasein eine viel eingreifendere und umfassendere Be¬
deutung zu geben wußten als anderswo. Die öffentliche und nationale Thä¬
tigkeit, die sie im Unterschiede von den Gesellschaftselementen anderer Staaten
entwickelten, ging also doch in unzertrennlicher Weise auf Stärkung und Festi¬
gung ihres einseitigen Eigenrechtes und Sonderinteresses; und so ist die eng¬
lische Freiheit im Wesentlichen nur einseitige Herrschaft der reichen Klassen und
schließt einen viel schrofferen Gegensatz in den Besitzvcrhältnissen in sich als
anderwärts. Unsere Aufgabe liegt gegenüber diesen englischen Zuständen
nach ganz entgegengesetzter Seite, darin, daß alle Elemente gleichmäßig aus
ihrem bloßen Eigenrechte und Sonderinteresse heraus in das organisch recht"
liebe Berufsverhältniß eintreten, daß also jener bis in das Mittelalter zurück¬
gehende Fehler endlich ganz und vollständig getilgt werde, während das eng¬
lische Wesen vielmehr die zäheste, bloß verständig modernisirte und erweiterte
Form mittelalterlicher Gesellschaftszustände ist. Wer sieht nicht, daß unsere
Aufgabe allein die echt menschliche ist, diejenige, die von hier aus auch ander¬
wärts, zuletzt auch noch in England, zum Durchbruche kommen muß?

Und hiemit kehren wir denn zu unserem anfänglichen Grundgedanken
zurück. Die industrielle Phase, in die wir jetzt eingetreten sind, ist zwar ein
wesentlicher Durchgangspunkt gegenüber der einseitig humanistischen und
ideellen, die vorausging; allein sie ist doch selbst nur ein höchst unvollkommener
Uebergang zu einem höheren rechtlich-sittlichen Ziele. Die nationale Bewe¬
gung aber, die bei uns an Stärke und Verbreitung jener ersteren leider noch
um ein Beträchtliches nachsteht, ist zwar ein noch unentbehrlicheres und geistig
träftigenderes Element; allein auch sie läßt die innerste Wurzel aller unserer
Uebel, jenen Particularismus in den gesammten bürgerlichen Zuständen, der
für uns Deutsche zugleich auch klcinstaatlicher Particularismus ist, noch un¬
berührt und hat daher für sich nicht diejenige Tiefe und Kraft, die ihr zufolge
unserer deutschen Geistesanlage erst durch die Verbindung mit einem neuen
rechtlich sittlichen Princip noch zufließen muß. Im organischen Berufsgesetze
allein liegt die über alle kleinstaatlichen Schranken gänzlich übergreifende Macht,
welche einst den Leib unserer Nation nach allen seinen einzelnen Gliedern, den
mannigfachen Zweigen und Verästlungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst,
zu einem Ganzen, einem wahrhaften Bundesstaate zusammenschließen wird.
Und darin wird also, zugleich mit den nüchtern materiellen Grundlagen, welche
die jetzige Zeit anstrebt, auch erst das menschlich ideale Ziel unserer früheren


bis in das Mittelalter zurückgreifende Grundfehler unserer Gesellschaft, das
Feststehen der einzelnen Elemente im einseitigen Eigenrecht und Sonderinteresse,
ist in England so wenig überwunden, daß vielmehr ganz umgekehrt seine ge¬
rühmte Freiheit eben darauf ruht, daß die hervorragenderen und selbständigeren
Elemente (grundbesitzender Adel und industrielles Bürgerthum) diesem ihrem
Sonderrechte und Sonderdasein eine viel eingreifendere und umfassendere Be¬
deutung zu geben wußten als anderswo. Die öffentliche und nationale Thä¬
tigkeit, die sie im Unterschiede von den Gesellschaftselementen anderer Staaten
entwickelten, ging also doch in unzertrennlicher Weise auf Stärkung und Festi¬
gung ihres einseitigen Eigenrechtes und Sonderinteresses; und so ist die eng¬
lische Freiheit im Wesentlichen nur einseitige Herrschaft der reichen Klassen und
schließt einen viel schrofferen Gegensatz in den Besitzvcrhältnissen in sich als
anderwärts. Unsere Aufgabe liegt gegenüber diesen englischen Zuständen
nach ganz entgegengesetzter Seite, darin, daß alle Elemente gleichmäßig aus
ihrem bloßen Eigenrechte und Sonderinteresse heraus in das organisch recht»
liebe Berufsverhältniß eintreten, daß also jener bis in das Mittelalter zurück¬
gehende Fehler endlich ganz und vollständig getilgt werde, während das eng¬
lische Wesen vielmehr die zäheste, bloß verständig modernisirte und erweiterte
Form mittelalterlicher Gesellschaftszustände ist. Wer sieht nicht, daß unsere
Aufgabe allein die echt menschliche ist, diejenige, die von hier aus auch ander¬
wärts, zuletzt auch noch in England, zum Durchbruche kommen muß?

Und hiemit kehren wir denn zu unserem anfänglichen Grundgedanken
zurück. Die industrielle Phase, in die wir jetzt eingetreten sind, ist zwar ein
wesentlicher Durchgangspunkt gegenüber der einseitig humanistischen und
ideellen, die vorausging; allein sie ist doch selbst nur ein höchst unvollkommener
Uebergang zu einem höheren rechtlich-sittlichen Ziele. Die nationale Bewe¬
gung aber, die bei uns an Stärke und Verbreitung jener ersteren leider noch
um ein Beträchtliches nachsteht, ist zwar ein noch unentbehrlicheres und geistig
träftigenderes Element; allein auch sie läßt die innerste Wurzel aller unserer
Uebel, jenen Particularismus in den gesammten bürgerlichen Zuständen, der
für uns Deutsche zugleich auch klcinstaatlicher Particularismus ist, noch un¬
berührt und hat daher für sich nicht diejenige Tiefe und Kraft, die ihr zufolge
unserer deutschen Geistesanlage erst durch die Verbindung mit einem neuen
rechtlich sittlichen Princip noch zufließen muß. Im organischen Berufsgesetze
allein liegt die über alle kleinstaatlichen Schranken gänzlich übergreifende Macht,
welche einst den Leib unserer Nation nach allen seinen einzelnen Gliedern, den
mannigfachen Zweigen und Verästlungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst,
zu einem Ganzen, einem wahrhaften Bundesstaate zusammenschließen wird.
Und darin wird also, zugleich mit den nüchtern materiellen Grundlagen, welche
die jetzige Zeit anstrebt, auch erst das menschlich ideale Ziel unserer früheren


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[0144] bis in das Mittelalter zurückgreifende Grundfehler unserer Gesellschaft, das Feststehen der einzelnen Elemente im einseitigen Eigenrecht und Sonderinteresse, ist in England so wenig überwunden, daß vielmehr ganz umgekehrt seine ge¬ rühmte Freiheit eben darauf ruht, daß die hervorragenderen und selbständigeren Elemente (grundbesitzender Adel und industrielles Bürgerthum) diesem ihrem Sonderrechte und Sonderdasein eine viel eingreifendere und umfassendere Be¬ deutung zu geben wußten als anderswo. Die öffentliche und nationale Thä¬ tigkeit, die sie im Unterschiede von den Gesellschaftselementen anderer Staaten entwickelten, ging also doch in unzertrennlicher Weise auf Stärkung und Festi¬ gung ihres einseitigen Eigenrechtes und Sonderinteresses; und so ist die eng¬ lische Freiheit im Wesentlichen nur einseitige Herrschaft der reichen Klassen und schließt einen viel schrofferen Gegensatz in den Besitzvcrhältnissen in sich als anderwärts. Unsere Aufgabe liegt gegenüber diesen englischen Zuständen nach ganz entgegengesetzter Seite, darin, daß alle Elemente gleichmäßig aus ihrem bloßen Eigenrechte und Sonderinteresse heraus in das organisch recht» liebe Berufsverhältniß eintreten, daß also jener bis in das Mittelalter zurück¬ gehende Fehler endlich ganz und vollständig getilgt werde, während das eng¬ lische Wesen vielmehr die zäheste, bloß verständig modernisirte und erweiterte Form mittelalterlicher Gesellschaftszustände ist. Wer sieht nicht, daß unsere Aufgabe allein die echt menschliche ist, diejenige, die von hier aus auch ander¬ wärts, zuletzt auch noch in England, zum Durchbruche kommen muß? Und hiemit kehren wir denn zu unserem anfänglichen Grundgedanken zurück. Die industrielle Phase, in die wir jetzt eingetreten sind, ist zwar ein wesentlicher Durchgangspunkt gegenüber der einseitig humanistischen und ideellen, die vorausging; allein sie ist doch selbst nur ein höchst unvollkommener Uebergang zu einem höheren rechtlich-sittlichen Ziele. Die nationale Bewe¬ gung aber, die bei uns an Stärke und Verbreitung jener ersteren leider noch um ein Beträchtliches nachsteht, ist zwar ein noch unentbehrlicheres und geistig träftigenderes Element; allein auch sie läßt die innerste Wurzel aller unserer Uebel, jenen Particularismus in den gesammten bürgerlichen Zuständen, der für uns Deutsche zugleich auch klcinstaatlicher Particularismus ist, noch un¬ berührt und hat daher für sich nicht diejenige Tiefe und Kraft, die ihr zufolge unserer deutschen Geistesanlage erst durch die Verbindung mit einem neuen rechtlich sittlichen Princip noch zufließen muß. Im organischen Berufsgesetze allein liegt die über alle kleinstaatlichen Schranken gänzlich übergreifende Macht, welche einst den Leib unserer Nation nach allen seinen einzelnen Gliedern, den mannigfachen Zweigen und Verästlungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst, zu einem Ganzen, einem wahrhaften Bundesstaate zusammenschließen wird. Und darin wird also, zugleich mit den nüchtern materiellen Grundlagen, welche die jetzige Zeit anstrebt, auch erst das menschlich ideale Ziel unserer früheren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/144>, abgerufen am 25.08.2024.