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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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vielmehr ein frei organisches Leben der besonderen Glieder wie des Ganzen
möglich.

Allein indem nun die jetzige industrielle Bewegung vielmehr eben inner¬
halb jener bisherigen bürgerlichen Formen sich fortbewegt, so muß sie trotz
aller fachmäßig technischen Ausbildung, trotz aller anregenden und ergänzenden
Einwirkung eines großen Verkehrszusammenhanges, doch andererseits den
selbstisch materiellen und dem wahren Berufsbewußtsein entgegengesetzten Sinn
noch steigern. Eben das Obige hat gezeigt, was eigentlich das Unwahre an
jenem so vielfach beklagten und getadelten materiellen Streben der Zeit ist:
es ist nichts weniger als überhaupt schon die große Bedeutung, welche die
materielle Arbeit und Hervorbringung in der Gegenwart gewonnen hat. Diese
ist vielmehr durchaus nothwendig und berechtigt gegenüber dem früheren
noch einseitig idealen Leben unserer Nation. Das selbstisch Materielle liegt
vielmehr nur darin, daß diese Bewegung noch innerhalb der bisherigen selb¬
stisch beschränkten Rechts- und Gesellschaftsformen vor sich geht und daß sie
so den einseitigen Erwerbsgeist und Speculationsgeist fördert, statt von dem
echt menschlichen und organischen rechtlich und sittlich läuternden Berufsgeiste
durchdrungen zu sein. Auf diese Weise hat sich in Frankreich, dessen Geistes¬
entwicklung am einseitigsten und mit ihrer ganzen Kraft eben in jene bisherigen
Rechts- und Gesellschaftsformen sich hineingelebt hat, die selbstische Korruption
ausgebildet, die nebst der innern Zerklüftung zwischen den verschiedenen Ge¬
sellschaftsklassen die Grundlage der jetzigen Napoleonischen Herrschaft bildet.
Und wenn auch Deutschland zufolge seiner universelleren und tieferen Entwick¬
lungselemente vor solcher Einseitigkeit bewahrt ist, so muß doch das wirklich
Analoge in den Zuständen auch ähnliche Wirkung üben und wie überhaupt
auf die sittliche Kraft der Nation, so auch auf die ihres Einheitsstrebens noch
erschlaffend und lähmend wirken. Wie nämlich aus dem Obigen von selbst
erhellt, weshalb unsere heutige Gesellschaft, trotz alles Ankämpfens gegen büreau¬
kratische Bevormundung, doch noch so wenig fähig ist, Formen wahrer Selbst¬
verwaltung in das Leben zu rufen, so ist es auch der gleiche Grund, der trotz
des von der Zeitentwicklung hervorgerufenen nationalen Zuges doch dieses
Einheitsstreben wieder innerlich lahmt und hindert. Der Particularismus der
bürgerlichen Gesellschaftselemente, d. h. ihr noch in das spröde Eigenrecht, in
einseitigen Erwerb und Besitz versenkter Privatgeist und ihr demgemäßer ato-
mistisch zerbröckelter Zustand enthält auch ebcndamit den Particularismus der
deutschen Staaten gegen einander. Denn auch sie sind demzufolge in der
geschichtlichen und natürlichen Besonderheit ihrer Besitz-, Erwerbs- und Handels¬
verhältnisse und in der ganzen Eigenthümlichkeit ihres Lebens noch spröde
Sonderexistenzen, deren einheitliche Zusammenschmelzung schon unmittelbar
durch die eingewöhnte Macht dieses in sich selbst lebenden und für sich ve-


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vielmehr ein frei organisches Leben der besonderen Glieder wie des Ganzen
möglich.

Allein indem nun die jetzige industrielle Bewegung vielmehr eben inner¬
halb jener bisherigen bürgerlichen Formen sich fortbewegt, so muß sie trotz
aller fachmäßig technischen Ausbildung, trotz aller anregenden und ergänzenden
Einwirkung eines großen Verkehrszusammenhanges, doch andererseits den
selbstisch materiellen und dem wahren Berufsbewußtsein entgegengesetzten Sinn
noch steigern. Eben das Obige hat gezeigt, was eigentlich das Unwahre an
jenem so vielfach beklagten und getadelten materiellen Streben der Zeit ist:
es ist nichts weniger als überhaupt schon die große Bedeutung, welche die
materielle Arbeit und Hervorbringung in der Gegenwart gewonnen hat. Diese
ist vielmehr durchaus nothwendig und berechtigt gegenüber dem früheren
noch einseitig idealen Leben unserer Nation. Das selbstisch Materielle liegt
vielmehr nur darin, daß diese Bewegung noch innerhalb der bisherigen selb¬
stisch beschränkten Rechts- und Gesellschaftsformen vor sich geht und daß sie
so den einseitigen Erwerbsgeist und Speculationsgeist fördert, statt von dem
echt menschlichen und organischen rechtlich und sittlich läuternden Berufsgeiste
durchdrungen zu sein. Auf diese Weise hat sich in Frankreich, dessen Geistes¬
entwicklung am einseitigsten und mit ihrer ganzen Kraft eben in jene bisherigen
Rechts- und Gesellschaftsformen sich hineingelebt hat, die selbstische Korruption
ausgebildet, die nebst der innern Zerklüftung zwischen den verschiedenen Ge¬
sellschaftsklassen die Grundlage der jetzigen Napoleonischen Herrschaft bildet.
Und wenn auch Deutschland zufolge seiner universelleren und tieferen Entwick¬
lungselemente vor solcher Einseitigkeit bewahrt ist, so muß doch das wirklich
Analoge in den Zuständen auch ähnliche Wirkung üben und wie überhaupt
auf die sittliche Kraft der Nation, so auch auf die ihres Einheitsstrebens noch
erschlaffend und lähmend wirken. Wie nämlich aus dem Obigen von selbst
erhellt, weshalb unsere heutige Gesellschaft, trotz alles Ankämpfens gegen büreau¬
kratische Bevormundung, doch noch so wenig fähig ist, Formen wahrer Selbst¬
verwaltung in das Leben zu rufen, so ist es auch der gleiche Grund, der trotz
des von der Zeitentwicklung hervorgerufenen nationalen Zuges doch dieses
Einheitsstreben wieder innerlich lahmt und hindert. Der Particularismus der
bürgerlichen Gesellschaftselemente, d. h. ihr noch in das spröde Eigenrecht, in
einseitigen Erwerb und Besitz versenkter Privatgeist und ihr demgemäßer ato-
mistisch zerbröckelter Zustand enthält auch ebcndamit den Particularismus der
deutschen Staaten gegen einander. Denn auch sie sind demzufolge in der
geschichtlichen und natürlichen Besonderheit ihrer Besitz-, Erwerbs- und Handels¬
verhältnisse und in der ganzen Eigenthümlichkeit ihres Lebens noch spröde
Sonderexistenzen, deren einheitliche Zusammenschmelzung schon unmittelbar
durch die eingewöhnte Macht dieses in sich selbst lebenden und für sich ve-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/141>, abgerufen am 23.07.2024.