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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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(gegen Ende des 2. Buches), "sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten
dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie
nicht leicht ein Anderer in der nächsten Umgebung, darauf kämmt es an".
Hier wird also vielmehr eben jene "Ausbildung einer einzelnen Fähigkeit", dies
technisch Fachmäßige, dessen Einseitigkeit den Lehrjahren zufolge den Bürger
charakterisiert, in den Vordergrund gestellt. "Jetzt ist die Zeit der Einseitig -
leiten; wohl dem, der es begreift, für sich und Andere in diesem Sinne wirkt."
(1. B. 4. Kap.) Und wenn dies selbst wieder als eine der scharfen und ein¬
seitigen Aeußerungen in Jarno's Manier gefaßt werden könnte, so ist doch
vielmehr die ganze Anlage jenes Bundes, in welcher auch Wilhelm ein nütz¬
liches Mitglied zu werden strebt, eben in diesem Sinne gehalten. Und so ver-.
läuft denn derselbe Roman, der in Mignvns Gestalt und Liedern noch den
ganzen Zauber classischer Schönheit mit dem des Romantischen aus wunder¬
same Weise vermählt hat, in seiner letzten Fortsetzung in einem dieser idealen
Welt gänzlich entgegengesetzten Gebiete, in gedehnten technischen Erörterungen
über Garnspinncrei und Weberei, in Figuren eines "Gevatter Schürfasser's
und Garnboten". Nicht blos Jarno wird, zum "Montan"; selbst die lose
Philine, diese aller Geschäftsprosa fremdeste Gestalt heiterer poetischer Laune,
muß es sich gefallen lassen, zur Schneiderin sich umzuwandeln, die überall
nach Stoff für ihre Scheere sucht-, und der Held des Ganzen wird durch das
eigenthümliche Andenken, das ihn an sein romantisches Abenteuer mit der
Amazone erinnert, hinübergeführt zu seinem wundärztlrchen Streben und ver¬
tieft sich in Erörterungen über Knochen- und Bänderlehre und künstliche ana¬
tomische Präparate. ,

Wol mag man mit Recht in diesem Berlaufe zugleich ein unmittelbares
Abbild des innern Absterbens des Dichtergeistes selbst, die zunehmende pro¬
saische Verknöcherung des Alters gegenüber der jugendlich schaffenden
Fülle und Bildungskraft der frühern Periode erblicken. Allein wie unzuläng¬
lich und wie ungerecht wäre es. bloß diesen Gesichtspunkt anzulegen, wo viel¬
mehr mit den unverkennbarsten Zügen die eigene Entwicklungsgeschichte der
ganzen Nation, das Bild der Periode vor. Allem, in der wir selbst jetzt be¬
griffen sind und der wir noch weiter entgegengehen, uns anschaut! Oder sind
denn nicht auch wir selbst gegenüber jener früheren Periode dichterischen
und philosophischen Schaffens in gleicher Weise prosaisch hölzern geworden?
Ist nicht die^einseitige Masse des Stofflichen und Technischen, wie es aus allen
Gebieten der Natur her angehäuft wird, das Beherrschende für die ganze
Denkweise der Zeit, selbst für ihre Liebhabereien und für den Geschmack ihrer
täglichen Unterhaltung geworden? Und wo ist dagegen jener einst so allgewaltige
Faustische Drang hin verschwunden, der nach dem innersten Grunde der Dinge,
nach wahrhaftem Begreifen derselben hinstrebte und unsere ganze philosophische


(gegen Ende des 2. Buches), „sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten
dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie
nicht leicht ein Anderer in der nächsten Umgebung, darauf kämmt es an".
Hier wird also vielmehr eben jene „Ausbildung einer einzelnen Fähigkeit", dies
technisch Fachmäßige, dessen Einseitigkeit den Lehrjahren zufolge den Bürger
charakterisiert, in den Vordergrund gestellt. „Jetzt ist die Zeit der Einseitig -
leiten; wohl dem, der es begreift, für sich und Andere in diesem Sinne wirkt."
(1. B. 4. Kap.) Und wenn dies selbst wieder als eine der scharfen und ein¬
seitigen Aeußerungen in Jarno's Manier gefaßt werden könnte, so ist doch
vielmehr die ganze Anlage jenes Bundes, in welcher auch Wilhelm ein nütz¬
liches Mitglied zu werden strebt, eben in diesem Sinne gehalten. Und so ver-.
läuft denn derselbe Roman, der in Mignvns Gestalt und Liedern noch den
ganzen Zauber classischer Schönheit mit dem des Romantischen aus wunder¬
same Weise vermählt hat, in seiner letzten Fortsetzung in einem dieser idealen
Welt gänzlich entgegengesetzten Gebiete, in gedehnten technischen Erörterungen
über Garnspinncrei und Weberei, in Figuren eines „Gevatter Schürfasser's
und Garnboten". Nicht blos Jarno wird, zum „Montan"; selbst die lose
Philine, diese aller Geschäftsprosa fremdeste Gestalt heiterer poetischer Laune,
muß es sich gefallen lassen, zur Schneiderin sich umzuwandeln, die überall
nach Stoff für ihre Scheere sucht-, und der Held des Ganzen wird durch das
eigenthümliche Andenken, das ihn an sein romantisches Abenteuer mit der
Amazone erinnert, hinübergeführt zu seinem wundärztlrchen Streben und ver¬
tieft sich in Erörterungen über Knochen- und Bänderlehre und künstliche ana¬
tomische Präparate. ,

Wol mag man mit Recht in diesem Berlaufe zugleich ein unmittelbares
Abbild des innern Absterbens des Dichtergeistes selbst, die zunehmende pro¬
saische Verknöcherung des Alters gegenüber der jugendlich schaffenden
Fülle und Bildungskraft der frühern Periode erblicken. Allein wie unzuläng¬
lich und wie ungerecht wäre es. bloß diesen Gesichtspunkt anzulegen, wo viel¬
mehr mit den unverkennbarsten Zügen die eigene Entwicklungsgeschichte der
ganzen Nation, das Bild der Periode vor. Allem, in der wir selbst jetzt be¬
griffen sind und der wir noch weiter entgegengehen, uns anschaut! Oder sind
denn nicht auch wir selbst gegenüber jener früheren Periode dichterischen
und philosophischen Schaffens in gleicher Weise prosaisch hölzern geworden?
Ist nicht die^einseitige Masse des Stofflichen und Technischen, wie es aus allen
Gebieten der Natur her angehäuft wird, das Beherrschende für die ganze
Denkweise der Zeit, selbst für ihre Liebhabereien und für den Geschmack ihrer
täglichen Unterhaltung geworden? Und wo ist dagegen jener einst so allgewaltige
Faustische Drang hin verschwunden, der nach dem innersten Grunde der Dinge,
nach wahrhaftem Begreifen derselben hinstrebte und unsere ganze philosophische


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[0134] (gegen Ende des 2. Buches), „sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein Anderer in der nächsten Umgebung, darauf kämmt es an". Hier wird also vielmehr eben jene „Ausbildung einer einzelnen Fähigkeit", dies technisch Fachmäßige, dessen Einseitigkeit den Lehrjahren zufolge den Bürger charakterisiert, in den Vordergrund gestellt. „Jetzt ist die Zeit der Einseitig - leiten; wohl dem, der es begreift, für sich und Andere in diesem Sinne wirkt." (1. B. 4. Kap.) Und wenn dies selbst wieder als eine der scharfen und ein¬ seitigen Aeußerungen in Jarno's Manier gefaßt werden könnte, so ist doch vielmehr die ganze Anlage jenes Bundes, in welcher auch Wilhelm ein nütz¬ liches Mitglied zu werden strebt, eben in diesem Sinne gehalten. Und so ver-. läuft denn derselbe Roman, der in Mignvns Gestalt und Liedern noch den ganzen Zauber classischer Schönheit mit dem des Romantischen aus wunder¬ same Weise vermählt hat, in seiner letzten Fortsetzung in einem dieser idealen Welt gänzlich entgegengesetzten Gebiete, in gedehnten technischen Erörterungen über Garnspinncrei und Weberei, in Figuren eines „Gevatter Schürfasser's und Garnboten". Nicht blos Jarno wird, zum „Montan"; selbst die lose Philine, diese aller Geschäftsprosa fremdeste Gestalt heiterer poetischer Laune, muß es sich gefallen lassen, zur Schneiderin sich umzuwandeln, die überall nach Stoff für ihre Scheere sucht-, und der Held des Ganzen wird durch das eigenthümliche Andenken, das ihn an sein romantisches Abenteuer mit der Amazone erinnert, hinübergeführt zu seinem wundärztlrchen Streben und ver¬ tieft sich in Erörterungen über Knochen- und Bänderlehre und künstliche ana¬ tomische Präparate. , Wol mag man mit Recht in diesem Berlaufe zugleich ein unmittelbares Abbild des innern Absterbens des Dichtergeistes selbst, die zunehmende pro¬ saische Verknöcherung des Alters gegenüber der jugendlich schaffenden Fülle und Bildungskraft der frühern Periode erblicken. Allein wie unzuläng¬ lich und wie ungerecht wäre es. bloß diesen Gesichtspunkt anzulegen, wo viel¬ mehr mit den unverkennbarsten Zügen die eigene Entwicklungsgeschichte der ganzen Nation, das Bild der Periode vor. Allem, in der wir selbst jetzt be¬ griffen sind und der wir noch weiter entgegengehen, uns anschaut! Oder sind denn nicht auch wir selbst gegenüber jener früheren Periode dichterischen und philosophischen Schaffens in gleicher Weise prosaisch hölzern geworden? Ist nicht die^einseitige Masse des Stofflichen und Technischen, wie es aus allen Gebieten der Natur her angehäuft wird, das Beherrschende für die ganze Denkweise der Zeit, selbst für ihre Liebhabereien und für den Geschmack ihrer täglichen Unterhaltung geworden? Und wo ist dagegen jener einst so allgewaltige Faustische Drang hin verschwunden, der nach dem innersten Grunde der Dinge, nach wahrhaftem Begreifen derselben hinstrebte und unsere ganze philosophische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/134>, abgerufen am 29.12.2024.