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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Wir sehen ganz davon ab, wie unsere philosophische Entwicklung in ihren
Konsequenzen selbst in das jetzige praktische bürgerliche Streben hinüberführte.
Wir suchen nur in Kürze zu zeigen, wie von unseren beiden großen Dichtern
gerade derjenige, welchem die gewöhnliche Anschauungsweise am wenigsten
Sinn für die politischen und socialen Fragen der Zeit zuschreibt, vielmehr die
ausgesprochensten echt vorbildlichen Hinweisungen auf unsere jetzige Periode
und deren Aufgaben gegeben hat. Freilich dürfen wir dieselben nicht auf dem
Höhepunkte Goethe'scher Kunst und Dichtung suchen; denn dieser liegt der Zeit,
wie dem Geiste nach noch zu weit ab. Es ist der schon gealt rde Goethe, mit
dein wir es hier zu thun haben; allein was hier an rein dichterischem In¬
teresse abgeht, das wird ersetzt dnrch die innere geschichtliche Bedeutung der
Ideen und Anschauungen, die wir wie ein prophetisches Spiegelbild kommender
Entwicklung uns vorgeführt sehen.

Daß Faust zuletzt mit dem freien rastlosen Schaffen bürgerlichen Gemein¬
sinns als einer höchsten Ahnung abschließt, ist freilich bekannt genug. Un¬
gleich weniger mag man dagegen den wunderlichen und ermüdenden Wen¬
dungen eines anderen Erzeugnisses des Goethe'schen Alters folgen, nämlich
der Wanderjahre. Und doch ist gewiß, daß gerade diese, verglichen mit den
Lehrjahren, deren Fortsetzung sie sein sollen, das sprechendste Abbild des Ent¬
wicklungsganges unserer ganzen Nation, des Durchganges von dem früheren
noch einseitig idealen und humanistischen Streben zu dem Realismus und der
nüchternen Prosa der jetzigen Periode, vor Augen stellen. Menschlich harmo¬
nische Ausbildung der ganzen Persönlichkeit, dies ist das Ziel, das mehr oder
weniger bewußt der Held der Lehrjahre verfolgt, und das schon seiner Vorliebe
für das Schauspielwesen zu Grunde liegt; klar veranschaulicht dies insbeson¬
dere der Brief Wilhelm's an Werner (im 5. Buche), indem er den Edelmann,
als den, der unter den bestehenden Verhältnissen allein zu einer solchen voll-
kommneren harmonisch persönlichen Ausbildung befähigt sei, dem Bürger ent¬
gegenstellt, der vielmehr nur "einzelne Fähigkeiten ausbilden soll, um brauchbar
zu werden", und der nach Werners Art nur auf Erwerb und Besitz ausgeht,
um dann wieder auf eine leichte Art zu genießen. Weiter als bis zu jenem
von den bürgerlichen Aufgaben noch so weit abliegenden Ziele geht im Wesent¬
lichen die Entwicklung der Lehrjahre noch nicht, wenn auch in der zweiten
Hälfte ein jener persönlichen Bestimmung gemäßes Wirken auf Andere. Aus¬
bildung und Bethätigung in einer Gemeinsamkeit, als ergänzende Seite
hervortritt.

Allein in welchem Gegensatze steht nun zu jener Anschauungsweise, die
so von selbst an die alte griechische mit ihrer Verachtung des banausischen
Erwerbslebens gegenüber der edlen frei menschlichen Ausbildung erinnert,
die in den Wanderjahren entwickelte! "Narrenspossen", sagt dort Jarno


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Wir sehen ganz davon ab, wie unsere philosophische Entwicklung in ihren
Konsequenzen selbst in das jetzige praktische bürgerliche Streben hinüberführte.
Wir suchen nur in Kürze zu zeigen, wie von unseren beiden großen Dichtern
gerade derjenige, welchem die gewöhnliche Anschauungsweise am wenigsten
Sinn für die politischen und socialen Fragen der Zeit zuschreibt, vielmehr die
ausgesprochensten echt vorbildlichen Hinweisungen auf unsere jetzige Periode
und deren Aufgaben gegeben hat. Freilich dürfen wir dieselben nicht auf dem
Höhepunkte Goethe'scher Kunst und Dichtung suchen; denn dieser liegt der Zeit,
wie dem Geiste nach noch zu weit ab. Es ist der schon gealt rde Goethe, mit
dein wir es hier zu thun haben; allein was hier an rein dichterischem In¬
teresse abgeht, das wird ersetzt dnrch die innere geschichtliche Bedeutung der
Ideen und Anschauungen, die wir wie ein prophetisches Spiegelbild kommender
Entwicklung uns vorgeführt sehen.

Daß Faust zuletzt mit dem freien rastlosen Schaffen bürgerlichen Gemein¬
sinns als einer höchsten Ahnung abschließt, ist freilich bekannt genug. Un¬
gleich weniger mag man dagegen den wunderlichen und ermüdenden Wen¬
dungen eines anderen Erzeugnisses des Goethe'schen Alters folgen, nämlich
der Wanderjahre. Und doch ist gewiß, daß gerade diese, verglichen mit den
Lehrjahren, deren Fortsetzung sie sein sollen, das sprechendste Abbild des Ent¬
wicklungsganges unserer ganzen Nation, des Durchganges von dem früheren
noch einseitig idealen und humanistischen Streben zu dem Realismus und der
nüchternen Prosa der jetzigen Periode, vor Augen stellen. Menschlich harmo¬
nische Ausbildung der ganzen Persönlichkeit, dies ist das Ziel, das mehr oder
weniger bewußt der Held der Lehrjahre verfolgt, und das schon seiner Vorliebe
für das Schauspielwesen zu Grunde liegt; klar veranschaulicht dies insbeson¬
dere der Brief Wilhelm's an Werner (im 5. Buche), indem er den Edelmann,
als den, der unter den bestehenden Verhältnissen allein zu einer solchen voll-
kommneren harmonisch persönlichen Ausbildung befähigt sei, dem Bürger ent¬
gegenstellt, der vielmehr nur „einzelne Fähigkeiten ausbilden soll, um brauchbar
zu werden", und der nach Werners Art nur auf Erwerb und Besitz ausgeht,
um dann wieder auf eine leichte Art zu genießen. Weiter als bis zu jenem
von den bürgerlichen Aufgaben noch so weit abliegenden Ziele geht im Wesent¬
lichen die Entwicklung der Lehrjahre noch nicht, wenn auch in der zweiten
Hälfte ein jener persönlichen Bestimmung gemäßes Wirken auf Andere. Aus¬
bildung und Bethätigung in einer Gemeinsamkeit, als ergänzende Seite
hervortritt.

Allein in welchem Gegensatze steht nun zu jener Anschauungsweise, die
so von selbst an die alte griechische mit ihrer Verachtung des banausischen
Erwerbslebens gegenüber der edlen frei menschlichen Ausbildung erinnert,
die in den Wanderjahren entwickelte! „Narrenspossen", sagt dort Jarno


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[0133] Wir sehen ganz davon ab, wie unsere philosophische Entwicklung in ihren Konsequenzen selbst in das jetzige praktische bürgerliche Streben hinüberführte. Wir suchen nur in Kürze zu zeigen, wie von unseren beiden großen Dichtern gerade derjenige, welchem die gewöhnliche Anschauungsweise am wenigsten Sinn für die politischen und socialen Fragen der Zeit zuschreibt, vielmehr die ausgesprochensten echt vorbildlichen Hinweisungen auf unsere jetzige Periode und deren Aufgaben gegeben hat. Freilich dürfen wir dieselben nicht auf dem Höhepunkte Goethe'scher Kunst und Dichtung suchen; denn dieser liegt der Zeit, wie dem Geiste nach noch zu weit ab. Es ist der schon gealt rde Goethe, mit dein wir es hier zu thun haben; allein was hier an rein dichterischem In¬ teresse abgeht, das wird ersetzt dnrch die innere geschichtliche Bedeutung der Ideen und Anschauungen, die wir wie ein prophetisches Spiegelbild kommender Entwicklung uns vorgeführt sehen. Daß Faust zuletzt mit dem freien rastlosen Schaffen bürgerlichen Gemein¬ sinns als einer höchsten Ahnung abschließt, ist freilich bekannt genug. Un¬ gleich weniger mag man dagegen den wunderlichen und ermüdenden Wen¬ dungen eines anderen Erzeugnisses des Goethe'schen Alters folgen, nämlich der Wanderjahre. Und doch ist gewiß, daß gerade diese, verglichen mit den Lehrjahren, deren Fortsetzung sie sein sollen, das sprechendste Abbild des Ent¬ wicklungsganges unserer ganzen Nation, des Durchganges von dem früheren noch einseitig idealen und humanistischen Streben zu dem Realismus und der nüchternen Prosa der jetzigen Periode, vor Augen stellen. Menschlich harmo¬ nische Ausbildung der ganzen Persönlichkeit, dies ist das Ziel, das mehr oder weniger bewußt der Held der Lehrjahre verfolgt, und das schon seiner Vorliebe für das Schauspielwesen zu Grunde liegt; klar veranschaulicht dies insbeson¬ dere der Brief Wilhelm's an Werner (im 5. Buche), indem er den Edelmann, als den, der unter den bestehenden Verhältnissen allein zu einer solchen voll- kommneren harmonisch persönlichen Ausbildung befähigt sei, dem Bürger ent¬ gegenstellt, der vielmehr nur „einzelne Fähigkeiten ausbilden soll, um brauchbar zu werden", und der nach Werners Art nur auf Erwerb und Besitz ausgeht, um dann wieder auf eine leichte Art zu genießen. Weiter als bis zu jenem von den bürgerlichen Aufgaben noch so weit abliegenden Ziele geht im Wesent¬ lichen die Entwicklung der Lehrjahre noch nicht, wenn auch in der zweiten Hälfte ein jener persönlichen Bestimmung gemäßes Wirken auf Andere. Aus¬ bildung und Bethätigung in einer Gemeinsamkeit, als ergänzende Seite hervortritt. Allein in welchem Gegensatze steht nun zu jener Anschauungsweise, die so von selbst an die alte griechische mit ihrer Verachtung des banausischen Erwerbslebens gegenüber der edlen frei menschlichen Ausbildung erinnert, die in den Wanderjahren entwickelte! „Narrenspossen", sagt dort Jarno 16*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/133>, abgerufen am 29.12.2024.