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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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behalten gewesen, ein physisches Bedürfniß für eine geistige Vollkommenheit
auszugeben. Diese hingeworfene Aeußerung Lessing's hat man in neuerer
Zeit mehrfach als eine passende Kritik des "Werther" gerühmt und damit viel
weniger Goethe, als Lessing Unrecht gethan. Lessing hatte den Grundsatz, oder
vielmehr die Gewohnheit, eine Uebertreibung, die ihn verletzte, dadurch zu be¬
kämpfen, daß er ihr eine andere Uebertreibung entgegensetzte, man muß also
mit seinen Einfüllen sehr vorsichtig umgehen, wenn man daraus auf seinen
Charakter oder seine Ueberzeugung schließen will: aM vorsichtigsten gerade dann,
wenn er gerade recht kühl und vorsichtig zu reden scheint; denn nie hat ein
Schriftsteller in solchen Fällen mehr über die Schnur gehauen, als Lessing.
Drückte jener Einfall wirklich seine Ueberzeugung aus. so müßte man sie ab¬
scheulich nennen, um so mehr, da er in jener Zeit so gut als verlobt war;
glücklicher Weise hat uns Leisewitz noch Unterredungen aufbewahrt, aus denen
hervorgeht, daß er in der Wirklichkeit ganz anderer Ueberzeugung war.

Zudem paßt jene Aeußerung nicht im Mindesten auf den "Werther":
in diesem Roman wird nur der Versuch gemacht, das rein sinnliche Element
der Liebe zu spiritualisiren, wohl aber ist das der Fehler der "Lucinde"; da¬
mit will ich nicht etwa sagen, daß das sinnliche Moment der Lirve nicht fähig
wäre, poetisch dargestellt zu werden; die alten Dichter, und unter den neueren
namentlich Goethe, haben das Gegentheil hinlänglich gezeigt: man soll die
Sinnlichkeit poetisch darstellen, aber sie nicht spiritualisiren, man soll, um mit
Lessing zu reden, ein physisches Bedürfniß nicht als eine geistige Vollkommen¬
heit darstellen. Diese Sünde hat nicht Goethe, sondern Friedrich Schlegel
begangen.

Man wende dagegen nicht etwa ein, daß beide Elemente, das sinnliche
und das geistige, innig zusammenhängen; sie gehören allerdings zusammen,
etwa wie Farbe und Figur eines Korpers. die man deshalb doch nicht ver¬
wechseln darf; sie werden oft nur durch eine ganz zarte Scheidelinie getrennt,
aber diese Scheidelinie richtig zu erkennen und zu fühlen ist eben die Kraft
des echten Dichters, der, indem er schön darstellt, zugleich sittlich darstellt.

Goethe ist es fast nie begegnet, daß er Beides verwechselt; ich erinnere
mich nur eines Falls in den "Wahlverwandtschaften", der auch auf jedes un¬
befangene Gemüth einen höchst peinlichen Eindruck macht.

Um die Paradoxien der Romantiker einigermaßen zu verstehen, muß
Man den historischen Hintergrund in's Auge fassen. In ihrer Zeit herrschte
die Wolff'sche Philosophie und war eben im Begriff durch die Kantische ab-
gelöst zu werden; beide Lehrgebäude kommen darin überein, daß sie den
moralischen Standpunkt als den entscheidenden auffaßten. Im Princip gingen
beide im Grunde von dem 11. Gebot aus, das ich oben aufgestellt habe;
denn wenn Wolff lehrte; strebe immer nach höherer Einheit mit dir selbst;


behalten gewesen, ein physisches Bedürfniß für eine geistige Vollkommenheit
auszugeben. Diese hingeworfene Aeußerung Lessing's hat man in neuerer
Zeit mehrfach als eine passende Kritik des „Werther" gerühmt und damit viel
weniger Goethe, als Lessing Unrecht gethan. Lessing hatte den Grundsatz, oder
vielmehr die Gewohnheit, eine Uebertreibung, die ihn verletzte, dadurch zu be¬
kämpfen, daß er ihr eine andere Uebertreibung entgegensetzte, man muß also
mit seinen Einfüllen sehr vorsichtig umgehen, wenn man daraus auf seinen
Charakter oder seine Ueberzeugung schließen will: aM vorsichtigsten gerade dann,
wenn er gerade recht kühl und vorsichtig zu reden scheint; denn nie hat ein
Schriftsteller in solchen Fällen mehr über die Schnur gehauen, als Lessing.
Drückte jener Einfall wirklich seine Ueberzeugung aus. so müßte man sie ab¬
scheulich nennen, um so mehr, da er in jener Zeit so gut als verlobt war;
glücklicher Weise hat uns Leisewitz noch Unterredungen aufbewahrt, aus denen
hervorgeht, daß er in der Wirklichkeit ganz anderer Ueberzeugung war.

Zudem paßt jene Aeußerung nicht im Mindesten auf den „Werther":
in diesem Roman wird nur der Versuch gemacht, das rein sinnliche Element
der Liebe zu spiritualisiren, wohl aber ist das der Fehler der „Lucinde"; da¬
mit will ich nicht etwa sagen, daß das sinnliche Moment der Lirve nicht fähig
wäre, poetisch dargestellt zu werden; die alten Dichter, und unter den neueren
namentlich Goethe, haben das Gegentheil hinlänglich gezeigt: man soll die
Sinnlichkeit poetisch darstellen, aber sie nicht spiritualisiren, man soll, um mit
Lessing zu reden, ein physisches Bedürfniß nicht als eine geistige Vollkommen¬
heit darstellen. Diese Sünde hat nicht Goethe, sondern Friedrich Schlegel
begangen.

Man wende dagegen nicht etwa ein, daß beide Elemente, das sinnliche
und das geistige, innig zusammenhängen; sie gehören allerdings zusammen,
etwa wie Farbe und Figur eines Korpers. die man deshalb doch nicht ver¬
wechseln darf; sie werden oft nur durch eine ganz zarte Scheidelinie getrennt,
aber diese Scheidelinie richtig zu erkennen und zu fühlen ist eben die Kraft
des echten Dichters, der, indem er schön darstellt, zugleich sittlich darstellt.

Goethe ist es fast nie begegnet, daß er Beides verwechselt; ich erinnere
mich nur eines Falls in den „Wahlverwandtschaften", der auch auf jedes un¬
befangene Gemüth einen höchst peinlichen Eindruck macht.

Um die Paradoxien der Romantiker einigermaßen zu verstehen, muß
Man den historischen Hintergrund in's Auge fassen. In ihrer Zeit herrschte
die Wolff'sche Philosophie und war eben im Begriff durch die Kantische ab-
gelöst zu werden; beide Lehrgebäude kommen darin überein, daß sie den
moralischen Standpunkt als den entscheidenden auffaßten. Im Princip gingen
beide im Grunde von dem 11. Gebot aus, das ich oben aufgestellt habe;
denn wenn Wolff lehrte; strebe immer nach höherer Einheit mit dir selbst;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/121>, abgerufen am 23.07.2024.